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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. -- Das System d. Freiheit etc. §. 30.
Eigenschaften theilhaftig geworden, die wir an der letzteren mit
so vollem Recht bewundern -- der Regelmäßigkeit, Sicherheit,
Berechenbarkeit.

Die Zeit liegt noch nicht fern, wo diese Anschauungsweise
die Gesetzgebung wie die Wissenschaft völlig beherrschte, 144) wo
es als etwas Großes und Erhabenes erschien, das frische freie
Leben und Weben in der sittlichen Schöpfung, die sittlichen
Naturkräfte
, wenn ich so sagen darf, zu verdrängen und
dafür den Mechanismus eines Uhrwerkes zu substituiren, bei
dem man sich vermeintlich von allen nicht aktenmäßigen und ge-
setzlich concessionirten Kräften und Einflüssen unabhängig ge-
macht hatte, die ganze Bewegung selbst in der Hand zu haben
glaubte. Allerdings hat sich ein Umschwung vorbereitet, aber
wir stehen doch erst am Anfang desselben, denn jene Anschau-
ungsweise hat sich nicht bloß in unsern Einrichtungen, Zustän-
den, Gesetzen u. s. w., sondern auch in der Ansicht des Volks

144) Die Philosophie sympathisirte darin mit der Jurisprudenz. Auch
ihr war auf ihrem Gebiet die Freiheit nicht weniger unbequem, als der Ju-
risprudenz auf dem des Rechts, auch ihr galt das Gesetz, die logische, dialek-
tische Nothwendigkeit als das Höchste, dem sie willig die Persönlichkeit zum
Opfer brachte. So läugnete sie die Persönlichkeit und Freiheit Gottes,
drückte in der Philosophie der Geschichte die Persönlichkeiten zu bloßen Mo-
menten des dialektischen Prozesses herab u. s. w. Das sittliche Universum,
wie sie es sich construirte, verdiente es nicht mit ganz anderm Recht, als die
Natur, die Schillerschen Vorwürfe:
Gleich dem todten Schlag der Pendeluhr
Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere
Die entgötterte Natur?
Kann es Wunder nehmen, daß in einer solchen Zeit, die gleichmäßig in der
Wissenschaft wie im Recht die Persönlichkeit bekriegte, die Persönlichkeiten
und Charaktere nicht gedeihen wollten, wenigstens da nicht, wo sie dem anti-
persönlichen Luftzug der Zeit vorzugsweise ausgesetzt waren? Oder müssen
wir das Causalverhältniß hier umdrehen? Die Philosophie hat hieran wieder
bewährt, daß sie sich mit Recht als "die Zeit in Form des Bewußtseins"
charakterisirt, und sie dürfte daher auch in demselben Maße, in dem das
Moment der Freiheit und Persönlichkeit reell an Bedeutung gewinnt, dasselbe
auf ihrem Gebiete zur Anerkennung bringen.

III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. — Das Syſtem d. Freiheit ꝛc. §. 30.
Eigenſchaften theilhaftig geworden, die wir an der letzteren mit
ſo vollem Recht bewundern — der Regelmäßigkeit, Sicherheit,
Berechenbarkeit.

Die Zeit liegt noch nicht fern, wo dieſe Anſchauungsweiſe
die Geſetzgebung wie die Wiſſenſchaft völlig beherrſchte, 144) wo
es als etwas Großes und Erhabenes erſchien, das friſche freie
Leben und Weben in der ſittlichen Schöpfung, die ſittlichen
Naturkräfte
, wenn ich ſo ſagen darf, zu verdrängen und
dafür den Mechanismus eines Uhrwerkes zu ſubſtituiren, bei
dem man ſich vermeintlich von allen nicht aktenmäßigen und ge-
ſetzlich conceſſionirten Kräften und Einflüſſen unabhängig ge-
macht hatte, die ganze Bewegung ſelbſt in der Hand zu haben
glaubte. Allerdings hat ſich ein Umſchwung vorbereitet, aber
wir ſtehen doch erſt am Anfang desſelben, denn jene Anſchau-
ungsweiſe hat ſich nicht bloß in unſern Einrichtungen, Zuſtän-
den, Geſetzen u. ſ. w., ſondern auch in der Anſicht des Volks

144) Die Philoſophie ſympathiſirte darin mit der Jurisprudenz. Auch
ihr war auf ihrem Gebiet die Freiheit nicht weniger unbequem, als der Ju-
risprudenz auf dem des Rechts, auch ihr galt das Geſetz, die logiſche, dialek-
tiſche Nothwendigkeit als das Höchſte, dem ſie willig die Perſönlichkeit zum
Opfer brachte. So läugnete ſie die Perſönlichkeit und Freiheit Gottes,
drückte in der Philoſophie der Geſchichte die Perſönlichkeiten zu bloßen Mo-
menten des dialektiſchen Prozeſſes herab u. ſ. w. Das ſittliche Univerſum,
wie ſie es ſich conſtruirte, verdiente es nicht mit ganz anderm Recht, als die
Natur, die Schillerſchen Vorwürfe:
Gleich dem todten Schlag der Pendeluhr
Dient ſie knechtiſch dem Geſetz der Schwere
Die entgötterte Natur?
Kann es Wunder nehmen, daß in einer ſolchen Zeit, die gleichmäßig in der
Wiſſenſchaft wie im Recht die Perſönlichkeit bekriegte, die Perſönlichkeiten
und Charaktere nicht gedeihen wollten, wenigſtens da nicht, wo ſie dem anti-
perſönlichen Luftzug der Zeit vorzugsweiſe ausgeſetzt waren? Oder müſſen
wir das Cauſalverhältniß hier umdrehen? Die Philoſophie hat hieran wieder
bewährt, daß ſie ſich mit Recht als „die Zeit in Form des Bewußtſeins“
charakteriſirt, und ſie dürfte daher auch in demſelben Maße, in dem das
Moment der Freiheit und Perſönlichkeit reell an Bedeutung gewinnt, daſſelbe
auf ihrem Gebiete zur Anerkennung bringen.
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[127/0141] III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. — Das Syſtem d. Freiheit ꝛc. §. 30. Eigenſchaften theilhaftig geworden, die wir an der letzteren mit ſo vollem Recht bewundern — der Regelmäßigkeit, Sicherheit, Berechenbarkeit. Die Zeit liegt noch nicht fern, wo dieſe Anſchauungsweiſe die Geſetzgebung wie die Wiſſenſchaft völlig beherrſchte, 144) wo es als etwas Großes und Erhabenes erſchien, das friſche freie Leben und Weben in der ſittlichen Schöpfung, die ſittlichen Naturkräfte, wenn ich ſo ſagen darf, zu verdrängen und dafür den Mechanismus eines Uhrwerkes zu ſubſtituiren, bei dem man ſich vermeintlich von allen nicht aktenmäßigen und ge- ſetzlich conceſſionirten Kräften und Einflüſſen unabhängig ge- macht hatte, die ganze Bewegung ſelbſt in der Hand zu haben glaubte. Allerdings hat ſich ein Umſchwung vorbereitet, aber wir ſtehen doch erſt am Anfang desſelben, denn jene Anſchau- ungsweiſe hat ſich nicht bloß in unſern Einrichtungen, Zuſtän- den, Geſetzen u. ſ. w., ſondern auch in der Anſicht des Volks 144) Die Philoſophie ſympathiſirte darin mit der Jurisprudenz. Auch ihr war auf ihrem Gebiet die Freiheit nicht weniger unbequem, als der Ju- risprudenz auf dem des Rechts, auch ihr galt das Geſetz, die logiſche, dialek- tiſche Nothwendigkeit als das Höchſte, dem ſie willig die Perſönlichkeit zum Opfer brachte. So läugnete ſie die Perſönlichkeit und Freiheit Gottes, drückte in der Philoſophie der Geſchichte die Perſönlichkeiten zu bloßen Mo- menten des dialektiſchen Prozeſſes herab u. ſ. w. Das ſittliche Univerſum, wie ſie es ſich conſtruirte, verdiente es nicht mit ganz anderm Recht, als die Natur, die Schillerſchen Vorwürfe: Gleich dem todten Schlag der Pendeluhr Dient ſie knechtiſch dem Geſetz der Schwere Die entgötterte Natur? Kann es Wunder nehmen, daß in einer ſolchen Zeit, die gleichmäßig in der Wiſſenſchaft wie im Recht die Perſönlichkeit bekriegte, die Perſönlichkeiten und Charaktere nicht gedeihen wollten, wenigſtens da nicht, wo ſie dem anti- perſönlichen Luftzug der Zeit vorzugsweiſe ausgeſetzt waren? Oder müſſen wir das Cauſalverhältniß hier umdrehen? Die Philoſophie hat hieran wieder bewährt, daß ſie ſich mit Recht als „die Zeit in Form des Bewußtſeins“ charakteriſirt, und ſie dürfte daher auch in demſelben Maße, in dem das Moment der Freiheit und Perſönlichkeit reell an Bedeutung gewinnt, daſſelbe auf ihrem Gebiete zur Anerkennung bringen.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/141>, abgerufen am 24.11.2024.