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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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II. Der Gleichheitstrieb. -- Effektive u. rechtliche Gleichheit. §. 29.
Losungswort der Edelsten und Besten, bald das Feldgeschrei
gerade der wildesten Massen. Bedeckt vom Staube der Straßen,
noch rauchend von Blut, die verworrensten Vorstellungen von
der einen, die gehässigsten Erinnerungen von der andern Seite
erweckend, sind sie für den historischen Gebrauch wenig zu em-
pfehlen; das ganze Getöse der Gegenwart, dem wir sonst
auf unserm Gebiete so weit entrückt sind, schallt mit jenen
Worten zu uns hinüber. Und doch können wir jene Worte
nicht entbehren, und doch können wir uns durch alle den schnö-
den Mißbrauch und Frevel, den man mit ihnen getrieben hat
und treibt, nicht abhalten lassen, uns freudig zu ihnen zu be-
kennen, in ihnen die höchsten und edelsten Ideen zu preisen, die
das Recht sein nennt, und Diejenigen zu bedauern, deren Seele
für jene großen Gedanken zu eng ist. Aber um so mehr thut es
Noth, uns über den Sinn zu verständigen, in dem dieselben
allein eine Berechtigung in Anspruch nehmen können; um so
mehr wollen wir die Gelegenheit benutzen, vom römischen Volk
zu lernen, wie ein charaktervolles und politisch reifes Volk diese
Ideeen auffaßt und welche Früchte sie hier tragen -- der sicherste
Weg, um vor dem hohlen Freiheits- und Gleichheitsgeschrei
einen unüberwindlichen Ekel zu bekommen.

Wie in der physischen Welt die Natur, so producirt in der
moralischen Welt die Geschichte tagtäglich Ungleichheiten; je
mehr Kraftentwicklung, um so bunter die Mannigfaltigkeit.
Darin besteht das Leben in der Natur und der Geschichte, daß
beide aus der geringen Zahl der Elemente, mit denen sie begon-
nen haben, einen unendlichen Reichthum der mannigfaltigsten
Gebilde hervorbringen. Diese Mannigfaltigkeit und Ungleich-
heit hinwegwünschen, hieße Natur und Geschichte zum Still-
stand, zum Tode verdammen. In Bezug auf die Natur wird
Niemand einen solchen Wunsch hegen, aber hinsichtlich der mo-
ralischen Welt ist derselbe bereits zu verschiedenen Zeiten laut
geworden. Alle jene Ungleichheiten in der Stellung der Men-
schen, die das unvermeidliche Resultat der Geschichte sind, z. B.

II. Der Gleichheitstrieb. — Effektive u. rechtliche Gleichheit. §. 29.
Loſungswort der Edelſten und Beſten, bald das Feldgeſchrei
gerade der wildeſten Maſſen. Bedeckt vom Staube der Straßen,
noch rauchend von Blut, die verworrenſten Vorſtellungen von
der einen, die gehäſſigſten Erinnerungen von der andern Seite
erweckend, ſind ſie für den hiſtoriſchen Gebrauch wenig zu em-
pfehlen; das ganze Getöſe der Gegenwart, dem wir ſonſt
auf unſerm Gebiete ſo weit entrückt ſind, ſchallt mit jenen
Worten zu uns hinüber. Und doch können wir jene Worte
nicht entbehren, und doch können wir uns durch alle den ſchnö-
den Mißbrauch und Frevel, den man mit ihnen getrieben hat
und treibt, nicht abhalten laſſen, uns freudig zu ihnen zu be-
kennen, in ihnen die höchſten und edelſten Ideen zu preiſen, die
das Recht ſein nennt, und Diejenigen zu bedauern, deren Seele
für jene großen Gedanken zu eng iſt. Aber um ſo mehr thut es
Noth, uns über den Sinn zu verſtändigen, in dem dieſelben
allein eine Berechtigung in Anſpruch nehmen können; um ſo
mehr wollen wir die Gelegenheit benutzen, vom römiſchen Volk
zu lernen, wie ein charaktervolles und politiſch reifes Volk dieſe
Ideeen auffaßt und welche Früchte ſie hier tragen — der ſicherſte
Weg, um vor dem hohlen Freiheits- und Gleichheitsgeſchrei
einen unüberwindlichen Ekel zu bekommen.

Wie in der phyſiſchen Welt die Natur, ſo producirt in der
moraliſchen Welt die Geſchichte tagtäglich Ungleichheiten; je
mehr Kraftentwicklung, um ſo bunter die Mannigfaltigkeit.
Darin beſteht das Leben in der Natur und der Geſchichte, daß
beide aus der geringen Zahl der Elemente, mit denen ſie begon-
nen haben, einen unendlichen Reichthum der mannigfaltigſten
Gebilde hervorbringen. Dieſe Mannigfaltigkeit und Ungleich-
heit hinwegwünſchen, hieße Natur und Geſchichte zum Still-
ſtand, zum Tode verdammen. In Bezug auf die Natur wird
Niemand einen ſolchen Wunſch hegen, aber hinſichtlich der mo-
raliſchen Welt iſt derſelbe bereits zu verſchiedenen Zeiten laut
geworden. Alle jene Ungleichheiten in der Stellung der Men-
ſchen, die das unvermeidliche Reſultat der Geſchichte ſind, z. B.

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[87/0101] II. Der Gleichheitstrieb. — Effektive u. rechtliche Gleichheit. §. 29. Loſungswort der Edelſten und Beſten, bald das Feldgeſchrei gerade der wildeſten Maſſen. Bedeckt vom Staube der Straßen, noch rauchend von Blut, die verworrenſten Vorſtellungen von der einen, die gehäſſigſten Erinnerungen von der andern Seite erweckend, ſind ſie für den hiſtoriſchen Gebrauch wenig zu em- pfehlen; das ganze Getöſe der Gegenwart, dem wir ſonſt auf unſerm Gebiete ſo weit entrückt ſind, ſchallt mit jenen Worten zu uns hinüber. Und doch können wir jene Worte nicht entbehren, und doch können wir uns durch alle den ſchnö- den Mißbrauch und Frevel, den man mit ihnen getrieben hat und treibt, nicht abhalten laſſen, uns freudig zu ihnen zu be- kennen, in ihnen die höchſten und edelſten Ideen zu preiſen, die das Recht ſein nennt, und Diejenigen zu bedauern, deren Seele für jene großen Gedanken zu eng iſt. Aber um ſo mehr thut es Noth, uns über den Sinn zu verſtändigen, in dem dieſelben allein eine Berechtigung in Anſpruch nehmen können; um ſo mehr wollen wir die Gelegenheit benutzen, vom römiſchen Volk zu lernen, wie ein charaktervolles und politiſch reifes Volk dieſe Ideeen auffaßt und welche Früchte ſie hier tragen — der ſicherſte Weg, um vor dem hohlen Freiheits- und Gleichheitsgeſchrei einen unüberwindlichen Ekel zu bekommen. Wie in der phyſiſchen Welt die Natur, ſo producirt in der moraliſchen Welt die Geſchichte tagtäglich Ungleichheiten; je mehr Kraftentwicklung, um ſo bunter die Mannigfaltigkeit. Darin beſteht das Leben in der Natur und der Geſchichte, daß beide aus der geringen Zahl der Elemente, mit denen ſie begon- nen haben, einen unendlichen Reichthum der mannigfaltigſten Gebilde hervorbringen. Dieſe Mannigfaltigkeit und Ungleich- heit hinwegwünſchen, hieße Natur und Geſchichte zum Still- ſtand, zum Tode verdammen. In Bezug auf die Natur wird Niemand einen ſolchen Wunſch hegen, aber hinſichtlich der mo- raliſchen Welt iſt derſelbe bereits zu verſchiedenen Zeiten laut geworden. Alle jene Ungleichheiten in der Stellung der Men- ſchen, die das unvermeidliche Reſultat der Geſchichte ſind, z. B.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/101>, abgerufen am 24.11.2024.