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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Einleitung -- die Methode.
und damit seine Rechtfertigung und sein Verständniß fand. Kein
Wunder, daß manche Rechtsinstitute dadurch eine Gestalt erhal-
ten, in der sie einem Unbefangenen als Zerrbilder erscheinen, daß
eine Unbegreiflichkeit sich an die andere reiht. Einem Historiker
von Fach, der die römische Rechtsgeschichte schreiben sollte, würde
dieser Verstoß, den die Romanisten täglich begehen, völlig un-
möglich fallen, und es würde der römischen Rechtsgeschichte sehr
zum Heil gereicht haben, -- davon bin ich überzeugt -- wenn
die Historiker von Fach sich ihrer mehr angenommen hätten. 26)
Der Grund liegt auf der Hand. Der Blick des Historikers ist
von vornherein nicht auf juristische Abstractionen und Formuli-
rungen der Vergangenheit gerichtet, sondern auf das substantielle
rechtliche und sittliche Leben derselben in seiner ganzen Totalität,
und jene können ihm daher nie isolirt erscheinen. Dem Juristen
hingegen ist es zur zweiten Natur geworden, in den substantiellen
Verhältnissen nur das rein juristische zu bemerken, und sein Blick
ist daher, auch wenn er das Gebiet der römischen Rechtsgeschichte
betritt, ausschließlich oder vorwiegend auf den dogmatischen In-
halt gerichtet. Hierzu kömmt noch, daß die Quellen, aus denen
er sein Material entnehmen soll, für ihre Zeit dogmatische Ar-
beiten waren, und in diesen findet sich jener reale Hintergrund,
von dem wir sprachen, aus dem Grund natürlich nicht, weil
die Verfasser derselben für ihre Zeitgenossen und nicht für zu-
künftige Rechtshistoriker schrieben, die Voraussetzung ihres Ver-
ständnisses, nämlich die Anschauung des ganzen römischen Le-
bens, mithin bei ihren Lesern nicht erst zu begründen brauchten.

26) An dem kurzen Abriß der römischen Rechtsgeschichte in dem bekann-
ten 44. Kapitel von Gibbon habe ich früh diese Erfahrung gemacht, ohne mir
freilich damals bewußt zu sein, warum derselbe auf mich eine unendlich höhere
Anziehungskraft ausübte, als die damals bereits erschienenen ausführlicheren,
von Juristen verfaßten Darstellungen. Bei Gibbon trat mir zum ersten Mal
ein zwar kurzes, aber zusammenhängendes Ganze in lebensvoller Weise ent-
gegen, in den letztern aber ein zerschnittenes und zerstückeltes System von
Rechtssätzen, Gesetzen u. s. w.

Einleitung — die Methode.
und damit ſeine Rechtfertigung und ſein Verſtändniß fand. Kein
Wunder, daß manche Rechtsinſtitute dadurch eine Geſtalt erhal-
ten, in der ſie einem Unbefangenen als Zerrbilder erſcheinen, daß
eine Unbegreiflichkeit ſich an die andere reiht. Einem Hiſtoriker
von Fach, der die römiſche Rechtsgeſchichte ſchreiben ſollte, würde
dieſer Verſtoß, den die Romaniſten täglich begehen, völlig un-
möglich fallen, und es würde der römiſchen Rechtsgeſchichte ſehr
zum Heil gereicht haben, — davon bin ich überzeugt — wenn
die Hiſtoriker von Fach ſich ihrer mehr angenommen hätten. 26)
Der Grund liegt auf der Hand. Der Blick des Hiſtorikers iſt
von vornherein nicht auf juriſtiſche Abſtractionen und Formuli-
rungen der Vergangenheit gerichtet, ſondern auf das ſubſtantielle
rechtliche und ſittliche Leben derſelben in ſeiner ganzen Totalität,
und jene können ihm daher nie iſolirt erſcheinen. Dem Juriſten
hingegen iſt es zur zweiten Natur geworden, in den ſubſtantiellen
Verhältniſſen nur das rein juriſtiſche zu bemerken, und ſein Blick
iſt daher, auch wenn er das Gebiet der römiſchen Rechtsgeſchichte
betritt, ausſchließlich oder vorwiegend auf den dogmatiſchen In-
halt gerichtet. Hierzu kömmt noch, daß die Quellen, aus denen
er ſein Material entnehmen ſoll, für ihre Zeit dogmatiſche Ar-
beiten waren, und in dieſen findet ſich jener reale Hintergrund,
von dem wir ſprachen, aus dem Grund natürlich nicht, weil
die Verfaſſer derſelben für ihre Zeitgenoſſen und nicht für zu-
künftige Rechtshiſtoriker ſchrieben, die Vorausſetzung ihres Ver-
ſtändniſſes, nämlich die Anſchauung des ganzen römiſchen Le-
bens, mithin bei ihren Leſern nicht erſt zu begründen brauchten.

26) An dem kurzen Abriß der römiſchen Rechtsgeſchichte in dem bekann-
ten 44. Kapitel von Gibbon habe ich früh dieſe Erfahrung gemacht, ohne mir
freilich damals bewußt zu ſein, warum derſelbe auf mich eine unendlich höhere
Anziehungskraft ausübte, als die damals bereits erſchienenen ausführlicheren,
von Juriſten verfaßten Darſtellungen. Bei Gibbon trat mir zum erſten Mal
ein zwar kurzes, aber zuſammenhängendes Ganze in lebensvoller Weiſe ent-
gegen, in den letztern aber ein zerſchnittenes und zerſtückeltes Syſtem von
Rechtsſätzen, Geſetzen u. ſ. w.
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[48/0066] Einleitung — die Methode. und damit ſeine Rechtfertigung und ſein Verſtändniß fand. Kein Wunder, daß manche Rechtsinſtitute dadurch eine Geſtalt erhal- ten, in der ſie einem Unbefangenen als Zerrbilder erſcheinen, daß eine Unbegreiflichkeit ſich an die andere reiht. Einem Hiſtoriker von Fach, der die römiſche Rechtsgeſchichte ſchreiben ſollte, würde dieſer Verſtoß, den die Romaniſten täglich begehen, völlig un- möglich fallen, und es würde der römiſchen Rechtsgeſchichte ſehr zum Heil gereicht haben, — davon bin ich überzeugt — wenn die Hiſtoriker von Fach ſich ihrer mehr angenommen hätten. 26) Der Grund liegt auf der Hand. Der Blick des Hiſtorikers iſt von vornherein nicht auf juriſtiſche Abſtractionen und Formuli- rungen der Vergangenheit gerichtet, ſondern auf das ſubſtantielle rechtliche und ſittliche Leben derſelben in ſeiner ganzen Totalität, und jene können ihm daher nie iſolirt erſcheinen. Dem Juriſten hingegen iſt es zur zweiten Natur geworden, in den ſubſtantiellen Verhältniſſen nur das rein juriſtiſche zu bemerken, und ſein Blick iſt daher, auch wenn er das Gebiet der römiſchen Rechtsgeſchichte betritt, ausſchließlich oder vorwiegend auf den dogmatiſchen In- halt gerichtet. Hierzu kömmt noch, daß die Quellen, aus denen er ſein Material entnehmen ſoll, für ihre Zeit dogmatiſche Ar- beiten waren, und in dieſen findet ſich jener reale Hintergrund, von dem wir ſprachen, aus dem Grund natürlich nicht, weil die Verfaſſer derſelben für ihre Zeitgenoſſen und nicht für zu- künftige Rechtshiſtoriker ſchrieben, die Vorausſetzung ihres Ver- ſtändniſſes, nämlich die Anſchauung des ganzen römiſchen Le- bens, mithin bei ihren Leſern nicht erſt zu begründen brauchten. 26) An dem kurzen Abriß der römiſchen Rechtsgeſchichte in dem bekann- ten 44. Kapitel von Gibbon habe ich früh dieſe Erfahrung gemacht, ohne mir freilich damals bewußt zu ſein, warum derſelbe auf mich eine unendlich höhere Anziehungskraft ausübte, als die damals bereits erſchienenen ausführlicheren, von Juriſten verfaßten Darſtellungen. Bei Gibbon trat mir zum erſten Mal ein zwar kurzes, aber zuſammenhängendes Ganze in lebensvoller Weiſe ent- gegen, in den letztern aber ein zerſchnittenes und zerſtückeltes Syſtem von Rechtsſätzen, Geſetzen u. ſ. w.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/66>, abgerufen am 26.11.2024.