Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.Einleitung -- die Methode. Ausführung dieses Gedankens, daß jedes Recht nur vom Stand-punkt des wirklichen Lebens aus begriffen werden kann, ist selbst für Laien unnöthig, 19) aber eine Eigenschaft des Rechts muß ich hervorheben, die durch den Zweck der Verwirklichung dessel- ben geboten ist, ich nenne sie die formale Realisirbarkeit oder Anwendbarkeit. Ich unterscheide nämlich zwischen materieller und for- 19) Ich will mir nur noch erlauben auf das Verhältniß, das hinsichtlich
der einzelnen Rechtsinstitute zwischen ihrer anatomischen Structur und Lage und ihren Functionen Statt findet aufmerksam zu machen. Es kann Institute geben von verschiedener anatomischer Structur mit gleichen oder ähnlichen Functionen z. B. das Vermächtniß und die donatio mortis causa, die alt- römische Verpfändung in Form der fiducia (Eigenthumsübertragung) und das neuere pignus, die Cession und Delegation, die cura und tutela, der Un- tergang der Klage und der Verlust des Rechts durch jenseitige Ersitzung u. s. w. Umgekehrt kann die Structur eine ähnliche sein oder bei einem und demselben Institut im wesentlichen dieselbe bleiben, die Functionen aber sehr auseinander gehen, wie z. B. bei der Staatsverfassung der Republik, die im Anfang der Kaiserzeit ihrer anatomischen Structur nach dieselbe blieb (Volk, Senat, Magistrat). -- Unsere juristische Methode legt leider ein gar zu großes Ge- wicht auf die anatomische Structur der Institute, und ein zu geringes auf die Functionen. Von diesem Standpunkt aus ist es eine Consequenz, wenn z. B. Puchta die Vormundschaft ins Obligationenrecht stellt. Einleitung — die Methode. Ausführung dieſes Gedankens, daß jedes Recht nur vom Stand-punkt des wirklichen Lebens aus begriffen werden kann, iſt ſelbſt für Laien unnöthig, 19) aber eine Eigenſchaft des Rechts muß ich hervorheben, die durch den Zweck der Verwirklichung deſſel- ben geboten iſt, ich nenne ſie die formale Realiſirbarkeit oder Anwendbarkeit. Ich unterſcheide nämlich zwiſchen materieller und for- 19) Ich will mir nur noch erlauben auf das Verhältniß, das hinſichtlich
der einzelnen Rechtsinſtitute zwiſchen ihrer anatomiſchen Structur und Lage und ihren Functionen Statt findet aufmerkſam zu machen. Es kann Inſtitute geben von verſchiedener anatomiſcher Structur mit gleichen oder ähnlichen Functionen z. B. das Vermächtniß und die donatio mortis causa, die alt- römiſche Verpfändung in Form der fiducia (Eigenthumsübertragung) und das neuere pignus, die Ceſſion und Delegation, die cura und tutela, der Un- tergang der Klage und der Verluſt des Rechts durch jenſeitige Erſitzung u. ſ. w. Umgekehrt kann die Structur eine ähnliche ſein oder bei einem und demſelben Inſtitut im weſentlichen dieſelbe bleiben, die Functionen aber ſehr auseinander gehen, wie z. B. bei der Staatsverfaſſung der Republik, die im Anfang der Kaiſerzeit ihrer anatomiſchen Structur nach dieſelbe blieb (Volk, Senat, Magiſtrat). — Unſere juriſtiſche Methode legt leider ein gar zu großes Ge- wicht auf die anatomiſche Structur der Inſtitute, und ein zu geringes auf die Functionen. Von dieſem Standpunkt aus iſt es eine Conſequenz, wenn z. B. Puchta die Vormundſchaft ins Obligationenrecht ſtellt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0060" n="42"/><fw place="top" type="header">Einleitung — die Methode.</fw><lb/> Ausführung dieſes Gedankens, daß jedes Recht nur vom Stand-<lb/> punkt des wirklichen Lebens aus begriffen werden kann, iſt ſelbſt<lb/> für Laien unnöthig, <note place="foot" n="19)">Ich will mir nur noch erlauben auf das Verhältniß, das hinſichtlich<lb/> der einzelnen Rechtsinſtitute zwiſchen ihrer anatomiſchen Structur und Lage<lb/> und ihren Functionen Statt findet aufmerkſam zu machen. Es kann Inſtitute<lb/> geben von verſchiedener anatomiſcher Structur mit gleichen oder ähnlichen<lb/> Functionen z. B. das Vermächtniß und die <hi rendition="#aq">donatio mortis causa,</hi> die alt-<lb/> römiſche Verpfändung in Form der <hi rendition="#aq">fiducia</hi> (Eigenthumsübertragung) und<lb/> das neuere <hi rendition="#aq">pignus,</hi> die Ceſſion und Delegation, die <hi rendition="#aq">cura</hi> und <hi rendition="#aq">tutela</hi>, der Un-<lb/> tergang der Klage und der Verluſt des Rechts durch jenſeitige Erſitzung u. ſ. w.<lb/> Umgekehrt kann die Structur eine ähnliche ſein oder bei einem und demſelben<lb/> Inſtitut im weſentlichen dieſelbe bleiben, die Functionen aber ſehr auseinander<lb/> gehen, wie z. B. bei der Staatsverfaſſung der Republik, die im Anfang der<lb/> Kaiſerzeit ihrer anatomiſchen Structur nach dieſelbe blieb (Volk, Senat,<lb/> Magiſtrat). — Unſere juriſtiſche Methode legt leider ein gar zu großes Ge-<lb/> wicht auf die anatomiſche Structur der Inſtitute, und ein zu geringes auf die<lb/> Functionen. Von dieſem Standpunkt aus iſt es eine Conſequenz, wenn z. B.<lb/> Puchta die Vormundſchaft ins Obligationenrecht ſtellt.</note> aber <hi rendition="#g">eine</hi> Eigenſchaft des Rechts muß<lb/> ich hervorheben, die durch den Zweck der Verwirklichung deſſel-<lb/> ben geboten iſt, ich nenne ſie die <hi rendition="#g">formale Realiſirbarkeit<lb/> oder Anwendbarkeit</hi>.</p><lb/> <p>Ich unterſcheide nämlich zwiſchen <hi rendition="#g">materieller</hi> und <hi rendition="#g">for-<lb/> maler</hi> Realiſirbarkeit eines Rechts und verſtehe unter jener die<lb/> Brauchbarkeit oder Angemeſſenheit der materiellen Beſtimmun-<lb/> gen des Rechts. Sie iſt natürlich durchaus relativ, bedingt durch<lb/> die oben bezeichneten Beziehungen des Rechts zum Leben, die<lb/> Anforderungen <hi rendition="#g">dieſer</hi> Zeit, die Eigenthümlichkeit <hi rendition="#g">dieſes</hi> Vol-<lb/> kes, die Geſtalt <hi rendition="#g">dieſes</hi> Lebens. Unter formaler Realiſirbarkeit<lb/> aber verſtehe ich die <hi rendition="#g">Leichtigkeit</hi> und <hi rendition="#g">Sicherheit</hi> der Anwen-<lb/> dung des abſtracten Rechts auf die concreten Fälle. Je nachdem<lb/> dieſe Operation einen geringeren oder höhern Aufwand geiſtiger<lb/> Kraft erfordert, und ihr Reſultat ſicherer oder unſicherer iſt,<lb/> ſpreche ich von einer höhern oder geringeren formalen Realiſir-<lb/> barkeit. Es iſt aber nicht die Leichtigkeit oder Schwierigkeit des<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [42/0060]
Einleitung — die Methode.
Ausführung dieſes Gedankens, daß jedes Recht nur vom Stand-
punkt des wirklichen Lebens aus begriffen werden kann, iſt ſelbſt
für Laien unnöthig, 19) aber eine Eigenſchaft des Rechts muß
ich hervorheben, die durch den Zweck der Verwirklichung deſſel-
ben geboten iſt, ich nenne ſie die formale Realiſirbarkeit
oder Anwendbarkeit.
Ich unterſcheide nämlich zwiſchen materieller und for-
maler Realiſirbarkeit eines Rechts und verſtehe unter jener die
Brauchbarkeit oder Angemeſſenheit der materiellen Beſtimmun-
gen des Rechts. Sie iſt natürlich durchaus relativ, bedingt durch
die oben bezeichneten Beziehungen des Rechts zum Leben, die
Anforderungen dieſer Zeit, die Eigenthümlichkeit dieſes Vol-
kes, die Geſtalt dieſes Lebens. Unter formaler Realiſirbarkeit
aber verſtehe ich die Leichtigkeit und Sicherheit der Anwen-
dung des abſtracten Rechts auf die concreten Fälle. Je nachdem
dieſe Operation einen geringeren oder höhern Aufwand geiſtiger
Kraft erfordert, und ihr Reſultat ſicherer oder unſicherer iſt,
ſpreche ich von einer höhern oder geringeren formalen Realiſir-
barkeit. Es iſt aber nicht die Leichtigkeit oder Schwierigkeit des
19) Ich will mir nur noch erlauben auf das Verhältniß, das hinſichtlich
der einzelnen Rechtsinſtitute zwiſchen ihrer anatomiſchen Structur und Lage
und ihren Functionen Statt findet aufmerkſam zu machen. Es kann Inſtitute
geben von verſchiedener anatomiſcher Structur mit gleichen oder ähnlichen
Functionen z. B. das Vermächtniß und die donatio mortis causa, die alt-
römiſche Verpfändung in Form der fiducia (Eigenthumsübertragung) und
das neuere pignus, die Ceſſion und Delegation, die cura und tutela, der Un-
tergang der Klage und der Verluſt des Rechts durch jenſeitige Erſitzung u. ſ. w.
Umgekehrt kann die Structur eine ähnliche ſein oder bei einem und demſelben
Inſtitut im weſentlichen dieſelbe bleiben, die Functionen aber ſehr auseinander
gehen, wie z. B. bei der Staatsverfaſſung der Republik, die im Anfang der
Kaiſerzeit ihrer anatomiſchen Structur nach dieſelbe blieb (Volk, Senat,
Magiſtrat). — Unſere juriſtiſche Methode legt leider ein gar zu großes Ge-
wicht auf die anatomiſche Structur der Inſtitute, und ein zu geringes auf die
Functionen. Von dieſem Standpunkt aus iſt es eine Conſequenz, wenn z. B.
Puchta die Vormundſchaft ins Obligationenrecht ſtellt.
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