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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Beobachtungsgabe und Formulirungsvermögen. §. 3.

Also die Entdeckung der vorhandenen Rechtsregeln ist be-
dingt durch die Beobachtungsgabe. 4) Daß letztere aber nach
Verschiedenheit der Zeiten und Individuen großer Abstufungen
fähig ist, liegt eben so sehr auf der Hand, als daß das Maß
derselben im allgemeinen sich nach der geistigen Bildung des
Beobachtenden bestimmt. Wir werden also nicht Unrecht thun,
wenn wir ungebildeten, rohen Völkern zurufen: Das wenigste
von der Rechtswelt, die Euch umgibt, habt Ihr begriffen, das
meiste entzieht sich Eurem Auge und lebt bloß in Eurem Gefühl;
Ihr steht in Rechtsverhältnissen, ohne es zu wissen, Ihr handelt
nach Normen, die Keiner von Euch ausgesprochen hat; die
Rechtssätze, von denen Ihr Kunde habt, sind nur vereinzelte
Streiflichter, die die Welt des thatsächlichen Rechts in Euer
Bewußtsein wirft.

Als zweite bei der Aufstellung von Rechtssätzen mitwirkende
Eigenschaft bezeichneten wir das Formulirungsvermögen
oder die Fähigkeit, den entdeckten Rechtssätzen ihren angemesse-
nen Ausdruck zu geben. Sie setzt eine richtige Erkenntniß vor-
aus, aber ist noch nicht mit ihr gegeben; wie manche Anschau-
ung steht klar und bestimmt vor unserer Seele, die wir doch nur
höchst unvollkommen in Worte bringen können. Jedes, auch
das relativ vollendetste Recht bietet uns Beispiele von mißlun-
genen Formulirungen d. h. nicht von Mißgriffen in den Bestim-

fremden zu verfassen. Ferner würde der größte Sprachvirtuose vielleicht der
schlechteste Grammatiker sein und umgekehrt. Doch wozu dies? Um uns dem
Wahne derer entgegenzustellen, welche die Autorität eines Nationalgram-
matikers
in All' und Jedem für heilig halten. Es gibt aber solche Böotier,
und sie kehren wieder, so oft man sie auch mit den Zinken austreibt." Statt
Sprache und Nationalgrammatiker setze man Recht und Nationaljurist und
mutato nomine de nobis fabula narratur.
4) Auch bei der Aufstellung neuer Rechtssätze durch den Gesetzgeber ist
die Beobachtungsgabe erforderlich; sie hat hier nur ein anderes Objekt, näm-
lich statt der vorhandenen Regel das Bedürfniß nach einer neu zu
bildenden Regel.
Jhering, Geist d. röm. Rechts. 2
Beobachtungsgabe und Formulirungsvermögen. §. 3.

Alſo die Entdeckung der vorhandenen Rechtsregeln iſt be-
dingt durch die Beobachtungsgabe. 4) Daß letztere aber nach
Verſchiedenheit der Zeiten und Individuen großer Abſtufungen
fähig iſt, liegt eben ſo ſehr auf der Hand, als daß das Maß
derſelben im allgemeinen ſich nach der geiſtigen Bildung des
Beobachtenden beſtimmt. Wir werden alſo nicht Unrecht thun,
wenn wir ungebildeten, rohen Völkern zurufen: Das wenigſte
von der Rechtswelt, die Euch umgibt, habt Ihr begriffen, das
meiſte entzieht ſich Eurem Auge und lebt bloß in Eurem Gefühl;
Ihr ſteht in Rechtsverhältniſſen, ohne es zu wiſſen, Ihr handelt
nach Normen, die Keiner von Euch ausgeſprochen hat; die
Rechtsſätze, von denen Ihr Kunde habt, ſind nur vereinzelte
Streiflichter, die die Welt des thatſächlichen Rechts in Euer
Bewußtſein wirft.

Als zweite bei der Aufſtellung von Rechtsſätzen mitwirkende
Eigenſchaft bezeichneten wir das Formulirungsvermögen
oder die Fähigkeit, den entdeckten Rechtsſätzen ihren angemeſſe-
nen Ausdruck zu geben. Sie ſetzt eine richtige Erkenntniß vor-
aus, aber iſt noch nicht mit ihr gegeben; wie manche Anſchau-
ung ſteht klar und beſtimmt vor unſerer Seele, die wir doch nur
höchſt unvollkommen in Worte bringen können. Jedes, auch
das relativ vollendetſte Recht bietet uns Beiſpiele von mißlun-
genen Formulirungen d. h. nicht von Mißgriffen in den Beſtim-

fremden zu verfaſſen. Ferner würde der größte Sprachvirtuoſe vielleicht der
ſchlechteſte Grammatiker ſein und umgekehrt. Doch wozu dies? Um uns dem
Wahne derer entgegenzuſtellen, welche die Autorität eines Nationalgram-
matikers
in All’ und Jedem für heilig halten. Es gibt aber ſolche Böotier,
und ſie kehren wieder, ſo oft man ſie auch mit den Zinken austreibt.“ Statt
Sprache und Nationalgrammatiker ſetze man Recht und Nationaljuriſt und
mutato nomine de nobis fabula narratur.
4) Auch bei der Aufſtellung neuer Rechtsſätze durch den Geſetzgeber iſt
die Beobachtungsgabe erforderlich; ſie hat hier nur ein anderes Objekt, näm-
lich ſtatt der vorhandenen Regel das Bedürfniß nach einer neu zu
bildenden Regel.
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[17/0035] Beobachtungsgabe und Formulirungsvermögen. §. 3. Alſo die Entdeckung der vorhandenen Rechtsregeln iſt be- dingt durch die Beobachtungsgabe. 4) Daß letztere aber nach Verſchiedenheit der Zeiten und Individuen großer Abſtufungen fähig iſt, liegt eben ſo ſehr auf der Hand, als daß das Maß derſelben im allgemeinen ſich nach der geiſtigen Bildung des Beobachtenden beſtimmt. Wir werden alſo nicht Unrecht thun, wenn wir ungebildeten, rohen Völkern zurufen: Das wenigſte von der Rechtswelt, die Euch umgibt, habt Ihr begriffen, das meiſte entzieht ſich Eurem Auge und lebt bloß in Eurem Gefühl; Ihr ſteht in Rechtsverhältniſſen, ohne es zu wiſſen, Ihr handelt nach Normen, die Keiner von Euch ausgeſprochen hat; die Rechtsſätze, von denen Ihr Kunde habt, ſind nur vereinzelte Streiflichter, die die Welt des thatſächlichen Rechts in Euer Bewußtſein wirft. Als zweite bei der Aufſtellung von Rechtsſätzen mitwirkende Eigenſchaft bezeichneten wir das Formulirungsvermögen oder die Fähigkeit, den entdeckten Rechtsſätzen ihren angemeſſe- nen Ausdruck zu geben. Sie ſetzt eine richtige Erkenntniß vor- aus, aber iſt noch nicht mit ihr gegeben; wie manche Anſchau- ung ſteht klar und beſtimmt vor unſerer Seele, die wir doch nur höchſt unvollkommen in Worte bringen können. Jedes, auch das relativ vollendetſte Recht bietet uns Beiſpiele von mißlun- genen Formulirungen d. h. nicht von Mißgriffen in den Beſtim- 3) 4) Auch bei der Aufſtellung neuer Rechtsſätze durch den Geſetzgeber iſt die Beobachtungsgabe erforderlich; ſie hat hier nur ein anderes Objekt, näm- lich ſtatt der vorhandenen Regel das Bedürfniß nach einer neu zu bildenden Regel. 3) fremden zu verfaſſen. Ferner würde der größte Sprachvirtuoſe vielleicht der ſchlechteſte Grammatiker ſein und umgekehrt. Doch wozu dies? Um uns dem Wahne derer entgegenzuſtellen, welche die Autorität eines Nationalgram- matikers in All’ und Jedem für heilig halten. Es gibt aber ſolche Böotier, und ſie kehren wieder, ſo oft man ſie auch mit den Zinken austreibt.“ Statt Sprache und Nationalgrammatiker ſetze man Recht und Nationaljuriſt und mutato nomine de nobis fabula narratur. Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 2

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/35>, abgerufen am 28.11.2024.