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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
Ein ungünstiges Zeichen, das von dem Handelnden nicht be-
obachtet wurde, hatte keine Bedeutung für ihn, darum pflegte
man beim Opfer sich das Gesicht zu verhüllen, um kein Zeichen
wahrzunehmen, und beim Aussprechen feierlicher Gebete, Ei-
desformeln u. s. w. einen Flötenbläser spielen zu lassen, um
auch die Ohren zu sichern. 260)

Was nun die Auspicien anbetrifft, so enthält die Augural-
disciplin einen recht schlagenden Beweis meiner obigen Behaup-
tung. Sie war streng, sehr streng, was die genaue Beobach-
tung der Formen anbetraf, aber wer die Formen genau erfüllte,
der konnte viel erreichen. Wie wohlthätig einerseits diese
Strenge, die an den geringsten Formfehler Nichtigkeit des
ganzen Akts knüpfte! wie geeignet, um staatsrechtliche Akte
z. B. Wahl eines untauglichen Beamten von Seiten des Volks,
durch die man überrumpelt war, hinterher wieder zu entkräf-
ten! 261) Andererseits aber wie fügsam jene Disciplin, wenn
es galt, schlechte oder gute Zeichen aufzufinden! Der Grund-
satz, der bei Gesetzen galt, daß das spätere das frühere auf-
hebe, war auch auf die Auspicien übertragen 262) und gab die
Auspicien ganz in die Hand des Suchenden. Gesetzt es sollte
durch sie eine Maßregel hintertrieben, eine von unruhigem Geist
beseelte Volksversammlung gesprengt werden, so setzte der die
Auspicien beobachtende Beamte seine Beobachtung so lange fort,
bis er endlich ein ungünstiges Auspicium erhalten hatte. Um-
gekehrt, wenn es darauf ankam, ein günstiges zu gewinnen;

ans Land sprang, stürzte und sich schnell fassend ausrief: ich habe Dich,
Afrika.
260) Plin. Hist. nat. lib. XXVIII. c. 2 §. 11 ... tibicinem canere,
ne quid aliud exaudiatur.
261) Es sind Beispiele bereits oben Note 245 vorgekommen.
262) Rubino a. a. O. S. 69 Anm. 1 und die dort citirten Stellen von
Servius ad Aen. II, 691: si dissimilia sunt posteriora, solvuntur priora.
XII, 183: in auguriis prima posterioribus cedere.

2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
Ein ungünſtiges Zeichen, das von dem Handelnden nicht be-
obachtet wurde, hatte keine Bedeutung für ihn, darum pflegte
man beim Opfer ſich das Geſicht zu verhüllen, um kein Zeichen
wahrzunehmen, und beim Ausſprechen feierlicher Gebete, Ei-
desformeln u. ſ. w. einen Flötenbläſer ſpielen zu laſſen, um
auch die Ohren zu ſichern. 260)

Was nun die Auſpicien anbetrifft, ſo enthält die Augural-
disciplin einen recht ſchlagenden Beweis meiner obigen Behaup-
tung. Sie war ſtreng, ſehr ſtreng, was die genaue Beobach-
tung der Formen anbetraf, aber wer die Formen genau erfüllte,
der konnte viel erreichen. Wie wohlthätig einerſeits dieſe
Strenge, die an den geringſten Formfehler Nichtigkeit des
ganzen Akts knüpfte! wie geeignet, um ſtaatsrechtliche Akte
z. B. Wahl eines untauglichen Beamten von Seiten des Volks,
durch die man überrumpelt war, hinterher wieder zu entkräf-
ten! 261) Andererſeits aber wie fügſam jene Disciplin, wenn
es galt, ſchlechte oder gute Zeichen aufzufinden! Der Grund-
ſatz, der bei Geſetzen galt, daß das ſpätere das frühere auf-
hebe, war auch auf die Auſpicien übertragen 262) und gab die
Auſpicien ganz in die Hand des Suchenden. Geſetzt es ſollte
durch ſie eine Maßregel hintertrieben, eine von unruhigem Geiſt
beſeelte Volksverſammlung geſprengt werden, ſo ſetzte der die
Auſpicien beobachtende Beamte ſeine Beobachtung ſo lange fort,
bis er endlich ein ungünſtiges Auſpicium erhalten hatte. Um-
gekehrt, wenn es darauf ankam, ein günſtiges zu gewinnen;

ans Land ſprang, ſtürzte und ſich ſchnell faſſend ausrief: ich habe Dich,
Afrika.
260) Plin. Hist. nat. lib. XXVIII. c. 2 §. 11 … tibicinem canere,
ne quid aliud exaudiatur.
261) Es ſind Beiſpiele bereits oben Note 245 vorgekommen.
262) Rubino a. a. O. S. 69 Anm. 1 und die dort citirten Stellen von
Servius ad Aen. II, 691: si dissimilia sunt posteriora, solvuntur priora.
XII, 183: in auguriis prima posterioribus cedere.
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[329/0347] 2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21. Ein ungünſtiges Zeichen, das von dem Handelnden nicht be- obachtet wurde, hatte keine Bedeutung für ihn, darum pflegte man beim Opfer ſich das Geſicht zu verhüllen, um kein Zeichen wahrzunehmen, und beim Ausſprechen feierlicher Gebete, Ei- desformeln u. ſ. w. einen Flötenbläſer ſpielen zu laſſen, um auch die Ohren zu ſichern. 260) Was nun die Auſpicien anbetrifft, ſo enthält die Augural- disciplin einen recht ſchlagenden Beweis meiner obigen Behaup- tung. Sie war ſtreng, ſehr ſtreng, was die genaue Beobach- tung der Formen anbetraf, aber wer die Formen genau erfüllte, der konnte viel erreichen. Wie wohlthätig einerſeits dieſe Strenge, die an den geringſten Formfehler Nichtigkeit des ganzen Akts knüpfte! wie geeignet, um ſtaatsrechtliche Akte z. B. Wahl eines untauglichen Beamten von Seiten des Volks, durch die man überrumpelt war, hinterher wieder zu entkräf- ten! 261) Andererſeits aber wie fügſam jene Disciplin, wenn es galt, ſchlechte oder gute Zeichen aufzufinden! Der Grund- ſatz, der bei Geſetzen galt, daß das ſpätere das frühere auf- hebe, war auch auf die Auſpicien übertragen 262) und gab die Auſpicien ganz in die Hand des Suchenden. Geſetzt es ſollte durch ſie eine Maßregel hintertrieben, eine von unruhigem Geiſt beſeelte Volksverſammlung geſprengt werden, ſo ſetzte der die Auſpicien beobachtende Beamte ſeine Beobachtung ſo lange fort, bis er endlich ein ungünſtiges Auſpicium erhalten hatte. Um- gekehrt, wenn es darauf ankam, ein günſtiges zu gewinnen; 259) 260) Plin. Hist. nat. lib. XXVIII. c. 2 §. 11 … tibicinem canere, ne quid aliud exaudiatur. 261) Es ſind Beiſpiele bereits oben Note 245 vorgekommen. 262) Rubino a. a. O. S. 69 Anm. 1 und die dort citirten Stellen von Servius ad Aen. II, 691: si dissimilia sunt posteriora, solvuntur priora. XII, 183: in auguriis prima posterioribus cedere. 259) ans Land ſprang, ſtürzte und ſich ſchnell faſſend ausrief: ich habe Dich, Afrika.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/347>, abgerufen am 10.06.2024.