Erstes Buch -- Uebergang zum spezifisch römischen Recht.
Moment durch die Reception des römischen Rechts von außen und auf Kosten des Moments der Nationalität aufgezwungen. In Rom entwickelt sich dieser Gegensatz auf natürlichem Wege von innen heraus, und beiden Momenten wird die freiste, vollste Entfaltung zu Theil, ohne daß das Gleichgewicht des Rechts dadurch gestört, die Einheit desselben gefährdet worden wäre.
Wer den von uns aufgestellten Gesichtspunkt an der Ver- fassung Roms zur Zeit der Republik erproben will, dem bietet sie mit ihren vielen latenten Widersprüchen reichen Stoff. Die Gewalten, die wir hier finden, die verschiedenen Volksversamm- lungen, der Senat, das Beamtenthum, schlossen die rechtliche Möglichkeit der Unverträglichkeit und Gegensätzlichkeit im hohen Grade in sich; das Tribunat war ja sogar die erklärte Negation, der autorisirte Widerspruch. Einer Zeit, wie der unsrigen, die in ihren Verfassungen die Kreise der verschiedenen Staats- gewalten aufs genaueste abzirkelt und dennoch das tägliche Schauspiel der Entzweiung derselben vor Augen hat, muß es als ein Wunder erscheinen, daß die römische Verfassung bei allem Stoff des Widerspruchs und der Gegensätzlichkeit, der in ihr lag, das gerade entgegengesetzte Schauspiel darbietet. Das Wunder ist aber nichts, als die einfache Wirkung der moralischen Kraft, die das römische Volk charakterisirt. Mit fester Hand weiß sie die Gewalten zu zügeln und zum harmonischen Zusam- menwirken zu veranlassen. In dieser Kraft liegt überall in der römischen Welt der Grund der Einheit, die wir hier wahrneh- men; sie kann es wagen, die Gegensätze zu entfesseln, weil sie den Conflikt derselben nicht zu befürchten hat.
Ich darf hieran eine Bemerkung reihen, mit der ich die bisherige Betrachtung beschließe; sie betrifft die centralisirende Tendenz des römischen Geistes. Für die Rechts- und Staats- entwicklung ist der Umstand, daß sie auf die Stadt Rom be- schränkt war, daß Rom trotz der Ausdehnung des Reichs doch der lebendige Mittelpunkt des Ganzen, der Sitz der Intelligenz, des politischen Lebens, Handels u. s. w. blieb, von allergrößtem
Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Moment durch die Reception des römiſchen Rechts von außen und auf Koſten des Moments der Nationalität aufgezwungen. In Rom entwickelt ſich dieſer Gegenſatz auf natürlichem Wege von innen heraus, und beiden Momenten wird die freiſte, vollſte Entfaltung zu Theil, ohne daß das Gleichgewicht des Rechts dadurch geſtört, die Einheit deſſelben gefährdet worden wäre.
Wer den von uns aufgeſtellten Geſichtspunkt an der Ver- faſſung Roms zur Zeit der Republik erproben will, dem bietet ſie mit ihren vielen latenten Widerſprüchen reichen Stoff. Die Gewalten, die wir hier finden, die verſchiedenen Volksverſamm- lungen, der Senat, das Beamtenthum, ſchloſſen die rechtliche Möglichkeit der Unverträglichkeit und Gegenſätzlichkeit im hohen Grade in ſich; das Tribunat war ja ſogar die erklärte Negation, der autoriſirte Widerſpruch. Einer Zeit, wie der unſrigen, die in ihren Verfaſſungen die Kreiſe der verſchiedenen Staats- gewalten aufs genaueſte abzirkelt und dennoch das tägliche Schauſpiel der Entzweiung derſelben vor Augen hat, muß es als ein Wunder erſcheinen, daß die römiſche Verfaſſung bei allem Stoff des Widerſpruchs und der Gegenſätzlichkeit, der in ihr lag, das gerade entgegengeſetzte Schauſpiel darbietet. Das Wunder iſt aber nichts, als die einfache Wirkung der moraliſchen Kraft, die das römiſche Volk charakteriſirt. Mit feſter Hand weiß ſie die Gewalten zu zügeln und zum harmoniſchen Zuſam- menwirken zu veranlaſſen. In dieſer Kraft liegt überall in der römiſchen Welt der Grund der Einheit, die wir hier wahrneh- men; ſie kann es wagen, die Gegenſätze zu entfeſſeln, weil ſie den Conflikt derſelben nicht zu befürchten hat.
Ich darf hieran eine Bemerkung reihen, mit der ich die bisherige Betrachtung beſchließe; ſie betrifft die centraliſirende Tendenz des römiſchen Geiſtes. Für die Rechts- und Staats- entwicklung iſt der Umſtand, daß ſie auf die Stadt Rom be- ſchränkt war, daß Rom trotz der Ausdehnung des Reichs doch der lebendige Mittelpunkt des Ganzen, der Sitz der Intelligenz, des politiſchen Lebens, Handels u. ſ. w. blieb, von allergrößtem
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Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Moment durch die Reception des römiſchen Rechts von außen
und auf Koſten des Moments der Nationalität aufgezwungen.
In Rom entwickelt ſich dieſer Gegenſatz auf natürlichem Wege
von innen heraus, und beiden Momenten wird die freiſte, vollſte
Entfaltung zu Theil, ohne daß das Gleichgewicht des Rechts
dadurch geſtört, die Einheit deſſelben gefährdet worden wäre.
Wer den von uns aufgeſtellten Geſichtspunkt an der Ver-
faſſung Roms zur Zeit der Republik erproben will, dem bietet
ſie mit ihren vielen latenten Widerſprüchen reichen Stoff. Die
Gewalten, die wir hier finden, die verſchiedenen Volksverſamm-
lungen, der Senat, das Beamtenthum, ſchloſſen die rechtliche
Möglichkeit der Unverträglichkeit und Gegenſätzlichkeit im hohen
Grade in ſich; das Tribunat war ja ſogar die erklärte Negation,
der autoriſirte Widerſpruch. Einer Zeit, wie der unſrigen, die
in ihren Verfaſſungen die Kreiſe der verſchiedenen Staats-
gewalten aufs genaueſte abzirkelt und dennoch das tägliche
Schauſpiel der Entzweiung derſelben vor Augen hat, muß es
als ein Wunder erſcheinen, daß die römiſche Verfaſſung bei
allem Stoff des Widerſpruchs und der Gegenſätzlichkeit, der in
ihr lag, das gerade entgegengeſetzte Schauſpiel darbietet. Das
Wunder iſt aber nichts, als die einfache Wirkung der moraliſchen
Kraft, die das römiſche Volk charakteriſirt. Mit feſter Hand
weiß ſie die Gewalten zu zügeln und zum harmoniſchen Zuſam-
menwirken zu veranlaſſen. In dieſer Kraft liegt überall in der
römiſchen Welt der Grund der Einheit, die wir hier wahrneh-
men; ſie kann es wagen, die Gegenſätze zu entfeſſeln, weil ſie
den Conflikt derſelben nicht zu befürchten hat.
Ich darf hieran eine Bemerkung reihen, mit der ich die
bisherige Betrachtung beſchließe; ſie betrifft die centraliſirende
Tendenz des römiſchen Geiſtes. Für die Rechts- und Staats-
entwicklung iſt der Umſtand, daß ſie auf die Stadt Rom be-
ſchränkt war, daß Rom trotz der Ausdehnung des Reichs doch
der lebendige Mittelpunkt des Ganzen, der Sitz der Intelligenz,
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/330>, abgerufen am 05.07.2024.
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