1. Prädestination des röm. Geistes zur Cultur des Rechts. §. 20.
Aus der obigen Entwicklung über das Wesen des römi- schen Geistes ergibt sich, warum und nach welcher Seite hin derselbe in so hohem Grade zur Cultur des Rechts berufen war. Das Recht ist die Religion der Selbstsucht, am Recht kann und darf die Idee der objektiven Zweckmäßigkeit wenn auch nicht ausschließlich, so doch in einem ausgezeichneten Grade sich be- thätigen, und gerade nach dieser Seite hin hat der römische Geist das Recht erfaßt und ausgebildet. Den Römern ist es von alters her gelungen, das Recht aus dem Bereich des Ge- fühls in das des berechnenden Verstandes zu versetzen, aus dem Recht einen von den Einflüssen der momentanen subjektiv-sitt- lichen Ansicht unabhängigen, äußern Mechanismus zu machen, den jeder, sei er Römer oder Nichtrömer, sobald er die Con- struktion desselben kennen gelernt hat, handhaben kann. Diese Losreißung des Rechts vom subjektiv-sittlichen Gefühl, seine Veräußerlichung und Objektivirung ist für die Geschichte des Rechts dasselbe, was für die Culturgeschichte die Erfindung der Buchstabenschrift -- das Recht ist damit darstellbar und lesbar geworden. Sie bezeichnet den Sieg der Zweckmäßigkeitsidee über das subjektive Sittlichkeitsgefühl; erst von jetzt an kann er- stere ihre Thätigkeit am Recht ungestört entfalten.
Nicht der einzelne Fall aber ist Objekt ihrer Thätigkeit, sondern die abstrakte Regel. Der ein- zelne Fall wird der allgemeinen Regel untergeordnet, geopfert; es ist dieselbe Hingabe des relativ Niedrigen an das Höhere, die wir oben (S. 298) als charakteristischen Zug der römischen Zweckmäßigkeitstheorie haben kennen lernen. Diese Unterord- nung ist ein Postulat der Zweckmäßigkeit, sie gewährt dem Ver- kehr erst die nöthige Sicherheit, indem sie ihm gleichmäßige, im voraus zu berechnende Entscheidungen der Rechtsstreitig- keiten in Aussicht stellt. Die praktische Verwirklichung dieser Unterordnung aber ist in der That nicht so leicht, wie sie scheint; nur zu oft setzt das subjektive Rechtsgefühl ihr Widerspruch ent- gegen, und es gehört Charakterfestigkeit oder die Sicherheit
1. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.
Aus der obigen Entwicklung über das Weſen des römi- ſchen Geiſtes ergibt ſich, warum und nach welcher Seite hin derſelbe in ſo hohem Grade zur Cultur des Rechts berufen war. Das Recht iſt die Religion der Selbſtſucht, am Recht kann und darf die Idee der objektiven Zweckmäßigkeit wenn auch nicht ausſchließlich, ſo doch in einem ausgezeichneten Grade ſich be- thätigen, und gerade nach dieſer Seite hin hat der römiſche Geiſt das Recht erfaßt und ausgebildet. Den Römern iſt es von alters her gelungen, das Recht aus dem Bereich des Ge- fühls in das des berechnenden Verſtandes zu verſetzen, aus dem Recht einen von den Einflüſſen der momentanen ſubjektiv-ſitt- lichen Anſicht unabhängigen, äußern Mechanismus zu machen, den jeder, ſei er Römer oder Nichtrömer, ſobald er die Con- ſtruktion deſſelben kennen gelernt hat, handhaben kann. Dieſe Losreißung des Rechts vom ſubjektiv-ſittlichen Gefühl, ſeine Veräußerlichung und Objektivirung iſt für die Geſchichte des Rechts daſſelbe, was für die Culturgeſchichte die Erfindung der Buchſtabenſchrift — das Recht iſt damit darſtellbar und lesbar geworden. Sie bezeichnet den Sieg der Zweckmäßigkeitsidee über das ſubjektive Sittlichkeitsgefühl; erſt von jetzt an kann er- ſtere ihre Thätigkeit am Recht ungeſtört entfalten.
Nicht der einzelne Fall aber iſt Objekt ihrer Thätigkeit, ſondern die abſtrakte Regel. Der ein- zelne Fall wird der allgemeinen Regel untergeordnet, geopfert; es iſt dieſelbe Hingabe des relativ Niedrigen an das Höhere, die wir oben (S. 298) als charakteriſtiſchen Zug der römiſchen Zweckmäßigkeitstheorie haben kennen lernen. Dieſe Unterord- nung iſt ein Poſtulat der Zweckmäßigkeit, ſie gewährt dem Ver- kehr erſt die nöthige Sicherheit, indem ſie ihm gleichmäßige, im voraus zu berechnende Entſcheidungen der Rechtsſtreitig- keiten in Ausſicht ſtellt. Die praktiſche Verwirklichung dieſer Unterordnung aber iſt in der That nicht ſo leicht, wie ſie ſcheint; nur zu oft ſetzt das ſubjektive Rechtsgefühl ihr Widerſpruch ent- gegen, und es gehört Charakterfeſtigkeit oder die Sicherheit
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1. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.
Aus der obigen Entwicklung über das Weſen des römi-
ſchen Geiſtes ergibt ſich, warum und nach welcher Seite hin
derſelbe in ſo hohem Grade zur Cultur des Rechts berufen war.
Das Recht iſt die Religion der Selbſtſucht, am Recht kann und
darf die Idee der objektiven Zweckmäßigkeit wenn auch nicht
ausſchließlich, ſo doch in einem ausgezeichneten Grade ſich be-
thätigen, und gerade nach dieſer Seite hin hat der römiſche
Geiſt das Recht erfaßt und ausgebildet. Den Römern iſt es
von alters her gelungen, das Recht aus dem Bereich des Ge-
fühls in das des berechnenden Verſtandes zu verſetzen, aus dem
Recht einen von den Einflüſſen der momentanen ſubjektiv-ſitt-
lichen Anſicht unabhängigen, äußern Mechanismus zu machen,
den jeder, ſei er Römer oder Nichtrömer, ſobald er die Con-
ſtruktion deſſelben kennen gelernt hat, handhaben kann. Dieſe
Losreißung des Rechts vom ſubjektiv-ſittlichen Gefühl, ſeine
Veräußerlichung und Objektivirung iſt für die Geſchichte des
Rechts daſſelbe, was für die Culturgeſchichte die Erfindung der
Buchſtabenſchrift — das Recht iſt damit darſtellbar und lesbar
geworden. Sie bezeichnet den Sieg der Zweckmäßigkeitsidee
über das ſubjektive Sittlichkeitsgefühl; erſt von jetzt an kann er-
ſtere ihre Thätigkeit am Recht ungeſtört entfalten.
Nicht der einzelne Fall aber iſt Objekt ihrer
Thätigkeit, ſondern die abſtrakte Regel. Der ein-
zelne Fall wird der allgemeinen Regel untergeordnet, geopfert;
es iſt dieſelbe Hingabe des relativ Niedrigen an das Höhere,
die wir oben (S. 298) als charakteriſtiſchen Zug der römiſchen
Zweckmäßigkeitstheorie haben kennen lernen. Dieſe Unterord-
nung iſt ein Poſtulat der Zweckmäßigkeit, ſie gewährt dem Ver-
kehr erſt die nöthige Sicherheit, indem ſie ihm gleichmäßige,
im voraus zu berechnende Entſcheidungen der Rechtsſtreitig-
keiten in Ausſicht ſtellt. Die praktiſche Verwirklichung dieſer
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nur zu oft ſetzt das ſubjektive Rechtsgefühl ihr Widerſpruch ent-
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/319>, abgerufen am 10.06.2024.
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