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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Uebergang zum spezifisch römischen Recht.
Selbstsucht nun, die wir oben charakterisirt haben, erfordert zu
ihrem moralischen Apparat eine hohe Energie des Charakters,
Tapferkeit, Selbstüberwindung, Ausdauer, Hingabe des In-
dividuums an den allgemeinen Zweck, kurz die Eigenschaften,
die wir bei den Römern wahrnehmen. Objektiv betrachtet sind
dieselben also der nationalen Selbstsucht dienstbar, wenn auch
subjektiv die Ausbildung und Bethätigung derselben gerade eine
Selbstverläugnung enthalten sollte. Das einzelne Subjekt wird
hier ohne sein Wissen und Wollen durch den Nationalgeist be-
stimmt; ob es sich seiner Bestimmung bewußt ist oder nicht, ist
völlig gleichgültig. Von seinem Standpunkt aus mag die ein-
zelne Handlung aus dem Pflichtgefühl oder unmittelbar aus
dem unbewußten Drange der innersten Natur heraus hervorge-
gangen sein; daß es diese Natur hat, daß ihm dies als Pflicht
erscheint, das ist dem Walten des Nationalgeistes zuzuschreiben.
Letzterer gestaltet den Volkscharakter, die sittlichen Institutionen,
das ganze Leben in der Weise, in der sie seinen Zwecken am
förderlichsten sind.

An diesem Objektivirungsprozeß der nationalen Selbstsucht
hat allerdings auch die Reflexion, die bewußte Berechnung ihren
Antheil 224 a) -- gerade der römische Volkscharakter verträgt bei

224 a) Es hätte dieser Punkt etwas mehr hervorgehoben werden können;
ich benutze die Correktur, um dies einigermaßen nachzuholen. Den Römern war
es Bedürfniß, die Dinge zu gestalten, es widerstrebte ihnen, sie nach der Theorie
der Naturwüchsigkeit sich selbst zu überlassen. Es ist bereits S. 93 darauf auf-
merksam gemacht, wie dieser Zug auch in der römischen Sage hervortritt, und
Keiner, der mit dieser Rücksicht die römische Welt betrachtet, wird den großen
Antheil, den die Reflexion, Absichtlichkeit u. s. w. an ihr hat, verkennen kön-
nen; überall ist ein Trieb nach intellektueller Erfassung und Beherrschung des
Vorhandenen, so wie die nachhelfende und organisirende Hand des Menschen
wahrnehmbar. "Kein Theil des Staatslebens, sagt Rubino a. a. O. S. 205,
blieb, wie die Gestalt aller Institute desselben beweist, der spontanen Bewe-
gung überlassen, noch beruhte er auf einer Masse unverbundener Traditionen;
überall gibt sich das Bestreben kund, einen obersten Grundsatz zum Bewußt-
sein zu bringen und ihn mit der strengsten Consequenz durch die Einzelnheiten
aller Regeln, Formen, Symbole durchzuführen."

Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Selbſtſucht nun, die wir oben charakteriſirt haben, erfordert zu
ihrem moraliſchen Apparat eine hohe Energie des Charakters,
Tapferkeit, Selbſtüberwindung, Ausdauer, Hingabe des In-
dividuums an den allgemeinen Zweck, kurz die Eigenſchaften,
die wir bei den Römern wahrnehmen. Objektiv betrachtet ſind
dieſelben alſo der nationalen Selbſtſucht dienſtbar, wenn auch
ſubjektiv die Ausbildung und Bethätigung derſelben gerade eine
Selbſtverläugnung enthalten ſollte. Das einzelne Subjekt wird
hier ohne ſein Wiſſen und Wollen durch den Nationalgeiſt be-
ſtimmt; ob es ſich ſeiner Beſtimmung bewußt iſt oder nicht, iſt
völlig gleichgültig. Von ſeinem Standpunkt aus mag die ein-
zelne Handlung aus dem Pflichtgefühl oder unmittelbar aus
dem unbewußten Drange der innerſten Natur heraus hervorge-
gangen ſein; daß es dieſe Natur hat, daß ihm dies als Pflicht
erſcheint, das iſt dem Walten des Nationalgeiſtes zuzuſchreiben.
Letzterer geſtaltet den Volkscharakter, die ſittlichen Inſtitutionen,
das ganze Leben in der Weiſe, in der ſie ſeinen Zwecken am
förderlichſten ſind.

An dieſem Objektivirungsprozeß der nationalen Selbſtſucht
hat allerdings auch die Reflexion, die bewußte Berechnung ihren
Antheil 224 a) — gerade der römiſche Volkscharakter verträgt bei

224 a) Es hätte dieſer Punkt etwas mehr hervorgehoben werden können;
ich benutze die Correktur, um dies einigermaßen nachzuholen. Den Römern war
es Bedürfniß, die Dinge zu geſtalten, es widerſtrebte ihnen, ſie nach der Theorie
der Naturwüchſigkeit ſich ſelbſt zu überlaſſen. Es iſt bereits S. 93 darauf auf-
merkſam gemacht, wie dieſer Zug auch in der römiſchen Sage hervortritt, und
Keiner, der mit dieſer Rückſicht die römiſche Welt betrachtet, wird den großen
Antheil, den die Reflexion, Abſichtlichkeit u. ſ. w. an ihr hat, verkennen kön-
nen; überall iſt ein Trieb nach intellektueller Erfaſſung und Beherrſchung des
Vorhandenen, ſo wie die nachhelfende und organiſirende Hand des Menſchen
wahrnehmbar. „Kein Theil des Staatslebens, ſagt Rubino a. a. O. S. 205,
blieb, wie die Geſtalt aller Inſtitute deſſelben beweiſt, der ſpontanen Bewe-
gung überlaſſen, noch beruhte er auf einer Maſſe unverbundener Traditionen;
überall gibt ſich das Beſtreben kund, einen oberſten Grundſatz zum Bewußt-
ſein zu bringen und ihn mit der ſtrengſten Conſequenz durch die Einzelnheiten
aller Regeln, Formen, Symbole durchzuführen.“
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[294/0312] Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht. Selbſtſucht nun, die wir oben charakteriſirt haben, erfordert zu ihrem moraliſchen Apparat eine hohe Energie des Charakters, Tapferkeit, Selbſtüberwindung, Ausdauer, Hingabe des In- dividuums an den allgemeinen Zweck, kurz die Eigenſchaften, die wir bei den Römern wahrnehmen. Objektiv betrachtet ſind dieſelben alſo der nationalen Selbſtſucht dienſtbar, wenn auch ſubjektiv die Ausbildung und Bethätigung derſelben gerade eine Selbſtverläugnung enthalten ſollte. Das einzelne Subjekt wird hier ohne ſein Wiſſen und Wollen durch den Nationalgeiſt be- ſtimmt; ob es ſich ſeiner Beſtimmung bewußt iſt oder nicht, iſt völlig gleichgültig. Von ſeinem Standpunkt aus mag die ein- zelne Handlung aus dem Pflichtgefühl oder unmittelbar aus dem unbewußten Drange der innerſten Natur heraus hervorge- gangen ſein; daß es dieſe Natur hat, daß ihm dies als Pflicht erſcheint, das iſt dem Walten des Nationalgeiſtes zuzuſchreiben. Letzterer geſtaltet den Volkscharakter, die ſittlichen Inſtitutionen, das ganze Leben in der Weiſe, in der ſie ſeinen Zwecken am förderlichſten ſind. An dieſem Objektivirungsprozeß der nationalen Selbſtſucht hat allerdings auch die Reflexion, die bewußte Berechnung ihren Antheil 224 a) — gerade der römiſche Volkscharakter verträgt bei 224 a) Es hätte dieſer Punkt etwas mehr hervorgehoben werden können; ich benutze die Correktur, um dies einigermaßen nachzuholen. Den Römern war es Bedürfniß, die Dinge zu geſtalten, es widerſtrebte ihnen, ſie nach der Theorie der Naturwüchſigkeit ſich ſelbſt zu überlaſſen. Es iſt bereits S. 93 darauf auf- merkſam gemacht, wie dieſer Zug auch in der römiſchen Sage hervortritt, und Keiner, der mit dieſer Rückſicht die römiſche Welt betrachtet, wird den großen Antheil, den die Reflexion, Abſichtlichkeit u. ſ. w. an ihr hat, verkennen kön- nen; überall iſt ein Trieb nach intellektueller Erfaſſung und Beherrſchung des Vorhandenen, ſo wie die nachhelfende und organiſirende Hand des Menſchen wahrnehmbar. „Kein Theil des Staatslebens, ſagt Rubino a. a. O. S. 205, blieb, wie die Geſtalt aller Inſtitute deſſelben beweiſt, der ſpontanen Bewe- gung überlaſſen, noch beruhte er auf einer Maſſe unverbundener Traditionen; überall gibt ſich das Beſtreben kund, einen oberſten Grundſatz zum Bewußt- ſein zu bringen und ihn mit der ſtrengſten Conſequenz durch die Einzelnheiten aller Regeln, Formen, Symbole durchzuführen.“

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/312>, abgerufen am 22.11.2024.