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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
leben, daß die Götter die That eines ihrer Mitglieder sie nicht
werde entgelten lassen.

Auf dem homo sacer selbst aber ruhte lebenslänglich der
Fluch der Götter und Menschen, und wagte er es je in seine
Heimath zurückzukehren, so mochte, wer da wollte, die Welt
von ihm befreien. Gab es nun kein Mittel diesem lebensläng-
lichen Elend zu entgehn, mit Göttern und Menschen sich aus-
zusöhnen? Konnte doch die schwerste Buße und der Tod selbst,
wenn er diese Entsühnung bewirkte, Manchem wünschenswer-
ther erscheinen, als ein dauernder Zustand der Verworfenheit.
Jenes Mittel -- was brauche ich es zu nennen? -- war die
Strafe. Nicht als Uebel erscheint sie uns hier, sondern als ein
Mittel, das vom Uebel befreit. Die Sacertät, und wenn sie
ewig dauerte, trägt nicht den Keim der Versöhnung in sich, denn
sie ist nur der Riß, aber der Riß verwächst nicht von selbst, der
Unreine wird nicht durch bloßen Ablauf der Zeit wieder rein,
sondern es bedarf eines Heil- und Reinigungsmittels. Wenn
wir nun nachweisen können, daß das älteste römische Recht
wirklich von dieser Auffassung der Strafe als eines Reinigungs-
mittels ausgegangen ist, so ist letztere damit in den bestimmte-
sten Gegensatz zur Sacertät gestellt, so kann diese selbst nicht
gleichfalls als Strafe gegolten haben.

Wenden wir uns nun mit unserer Frage zuerst an jene un-
trügliche Zeugin primitiver Rechtsanschauungen, die Etymolo-
gie, so gewährt sie uns auch hier wieder höchst werthvolle Auf-
schlüsse. Poena, worin man wie im griechischen poine zunächst
das Sühnegeld erblicken will, 204) weist etymologisch auf die
Idee der Reinheit hin, 205) ebenso castigatio (castum agere),

204) S. z. B. Rubino a. a. O. S. 460: "wer sie erleidet, gibt sie
(dat, solvit, pendit), wer sie zufügen will, fordert sie ein (petit, expetit,
exigit),
wer sie vollzieht, nimmt sie an (sumit, capit, habet poenas)."
Rein Kriminalrecht der Römer S. 284 will gar nur eine Privatgenugthuung
darin finden.
205) Pott Etymol. Unters. B. 1 S. 252. Damit zusammenhängend
sind pu-rus, pur, pu-tus, pu-teus, pu-nire.

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
leben, daß die Götter die That eines ihrer Mitglieder ſie nicht
werde entgelten laſſen.

Auf dem homo sacer ſelbſt aber ruhte lebenslänglich der
Fluch der Götter und Menſchen, und wagte er es je in ſeine
Heimath zurückzukehren, ſo mochte, wer da wollte, die Welt
von ihm befreien. Gab es nun kein Mittel dieſem lebensläng-
lichen Elend zu entgehn, mit Göttern und Menſchen ſich aus-
zuſöhnen? Konnte doch die ſchwerſte Buße und der Tod ſelbſt,
wenn er dieſe Entſühnung bewirkte, Manchem wünſchenswer-
ther erſcheinen, als ein dauernder Zuſtand der Verworfenheit.
Jenes Mittel — was brauche ich es zu nennen? — war die
Strafe. Nicht als Uebel erſcheint ſie uns hier, ſondern als ein
Mittel, das vom Uebel befreit. Die Sacertät, und wenn ſie
ewig dauerte, trägt nicht den Keim der Verſöhnung in ſich, denn
ſie iſt nur der Riß, aber der Riß verwächſt nicht von ſelbſt, der
Unreine wird nicht durch bloßen Ablauf der Zeit wieder rein,
ſondern es bedarf eines Heil- und Reinigungsmittels. Wenn
wir nun nachweiſen können, daß das älteſte römiſche Recht
wirklich von dieſer Auffaſſung der Strafe als eines Reinigungs-
mittels ausgegangen iſt, ſo iſt letztere damit in den beſtimmte-
ſten Gegenſatz zur Sacertät geſtellt, ſo kann dieſe ſelbſt nicht
gleichfalls als Strafe gegolten haben.

Wenden wir uns nun mit unſerer Frage zuerſt an jene un-
trügliche Zeugin primitiver Rechtsanſchauungen, die Etymolo-
gie, ſo gewährt ſie uns auch hier wieder höchſt werthvolle Auf-
ſchlüſſe. Poena, worin man wie im griechiſchen ποινή zunächſt
das Sühnegeld erblicken will, 204) weiſt etymologiſch auf die
Idee der Reinheit hin, 205) ebenſo castigatio (castum agere),

204) S. z. B. Rubino a. a. O. S. 460: „wer ſie erleidet, gibt ſie
(dat, solvit, pendit), wer ſie zufügen will, fordert ſie ein (petit, expetit,
exigit),
wer ſie vollzieht, nimmt ſie an (sumit, capit, habet poenas).“
Rein Kriminalrecht der Römer S. 284 will gar nur eine Privatgenugthuung
darin finden.
205) Pott Etymol. Unterſ. B. 1 S. 252. Damit zuſammenhängend
ſind pu-rus, πῦϱ, pu-tus, pu-teus, pu-nire.
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[276/0294] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. leben, daß die Götter die That eines ihrer Mitglieder ſie nicht werde entgelten laſſen. Auf dem homo sacer ſelbſt aber ruhte lebenslänglich der Fluch der Götter und Menſchen, und wagte er es je in ſeine Heimath zurückzukehren, ſo mochte, wer da wollte, die Welt von ihm befreien. Gab es nun kein Mittel dieſem lebensläng- lichen Elend zu entgehn, mit Göttern und Menſchen ſich aus- zuſöhnen? Konnte doch die ſchwerſte Buße und der Tod ſelbſt, wenn er dieſe Entſühnung bewirkte, Manchem wünſchenswer- ther erſcheinen, als ein dauernder Zuſtand der Verworfenheit. Jenes Mittel — was brauche ich es zu nennen? — war die Strafe. Nicht als Uebel erſcheint ſie uns hier, ſondern als ein Mittel, das vom Uebel befreit. Die Sacertät, und wenn ſie ewig dauerte, trägt nicht den Keim der Verſöhnung in ſich, denn ſie iſt nur der Riß, aber der Riß verwächſt nicht von ſelbſt, der Unreine wird nicht durch bloßen Ablauf der Zeit wieder rein, ſondern es bedarf eines Heil- und Reinigungsmittels. Wenn wir nun nachweiſen können, daß das älteſte römiſche Recht wirklich von dieſer Auffaſſung der Strafe als eines Reinigungs- mittels ausgegangen iſt, ſo iſt letztere damit in den beſtimmte- ſten Gegenſatz zur Sacertät geſtellt, ſo kann dieſe ſelbſt nicht gleichfalls als Strafe gegolten haben. Wenden wir uns nun mit unſerer Frage zuerſt an jene un- trügliche Zeugin primitiver Rechtsanſchauungen, die Etymolo- gie, ſo gewährt ſie uns auch hier wieder höchſt werthvolle Auf- ſchlüſſe. Poena, worin man wie im griechiſchen ποινή zunächſt das Sühnegeld erblicken will, 204) weiſt etymologiſch auf die Idee der Reinheit hin, 205) ebenſo castigatio (castum agere), 204) S. z. B. Rubino a. a. O. S. 460: „wer ſie erleidet, gibt ſie (dat, solvit, pendit), wer ſie zufügen will, fordert ſie ein (petit, expetit, exigit), wer ſie vollzieht, nimmt ſie an (sumit, capit, habet poenas).“ Rein Kriminalrecht der Römer S. 284 will gar nur eine Privatgenugthuung darin finden. 205) Pott Etymol. Unterſ. B. 1 S. 252. Damit zuſammenhängend ſind pu-rus, πῦϱ, pu-tus, pu-teus, pu-nire.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/294>, abgerufen am 22.11.2024.