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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
noch mehr sagen will, einer geistlichen. Die Macht der Tradi-
tion hielt hier den Einflüssen der individuellen Meinung das
Gegengewicht, der Wechsel der Mitglieder des Gerichts war
unschädlich. So war das geistliche Gericht der passende, abge-
legene Ort, an dem der Ablagerungs-Prozeß des Rechts, wenn
ich so sagen darf, der Uebergang desselben aus dem Zustande
der Flüssigkeit und Formlosigkeit in den der Festigkeit und for-
mellen Bestimmtheit am sichersten und raschesten erfolgen konnte.


Vielleicht haben wir uns mit dem Pontificalcollegium als
der Behörde, in der das Fas sich äußerlich darstellte, schon zu
weit von der ältesten Zeit entfernt, und wir kehren jetzt zu der-
selben zurück, um die ursprünglichen Beziehungen der Religion
zu Staat und Recht kennen zu lernen.

Schon der Grund und Boden, den wir betreten, zeigt uns
die Einwirkungen der Religion. Götter, Staat und Indivi-
duen hatten sich zu gleichen Theilen darin getheilt, aber nicht
bloß das Drittheil der Götter genießt des Schutzes derselben,
auch die Mauern der Stadt, die Gränzen der Privatgrund-
stücke, wie Steine, Bäume und Gräben, die Früchte auf dem
Felde u. s. w. participiren daran, und wer die Mauern ver-
letzt, die Gränzen verrückt, die Früchte bei nächtlicher Weile
stiehlt, der versündigt sich gegen die Götter und ladet den Zorn
derselben und die schwerste Strafe auf sich.

Aber näher, als der Boden, steht den Göttern die sittliche
Welt, die sich darauf erhebt. Der Staat mit seiner Ordnung
ist durch einen religiösen Weiheakt unter den Schutz derselben
gestellt, gewissermaßen zu einem Gotteshaus gemacht, an dem
man ohne Willen der Götter, die es bewohnen, nichts ändern
darf. Wer gegen diese heilige Ordnung des Staats frevelt,
versündigt sich daher auch gegen die Götter. Kein Theil dieses
Gebäudes, das nicht einem besondern Gotte heilig wäre. Po-

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
noch mehr ſagen will, einer geiſtlichen. Die Macht der Tradi-
tion hielt hier den Einflüſſen der individuellen Meinung das
Gegengewicht, der Wechſel der Mitglieder des Gerichts war
unſchädlich. So war das geiſtliche Gericht der paſſende, abge-
legene Ort, an dem der Ablagerungs-Prozeß des Rechts, wenn
ich ſo ſagen darf, der Uebergang deſſelben aus dem Zuſtande
der Flüſſigkeit und Formloſigkeit in den der Feſtigkeit und for-
mellen Beſtimmtheit am ſicherſten und raſcheſten erfolgen konnte.


Vielleicht haben wir uns mit dem Pontificalcollegium als
der Behörde, in der das Fas ſich äußerlich darſtellte, ſchon zu
weit von der älteſten Zeit entfernt, und wir kehren jetzt zu der-
ſelben zurück, um die urſprünglichen Beziehungen der Religion
zu Staat und Recht kennen zu lernen.

Schon der Grund und Boden, den wir betreten, zeigt uns
die Einwirkungen der Religion. Götter, Staat und Indivi-
duen hatten ſich zu gleichen Theilen darin getheilt, aber nicht
bloß das Drittheil der Götter genießt des Schutzes derſelben,
auch die Mauern der Stadt, die Gränzen der Privatgrund-
ſtücke, wie Steine, Bäume und Gräben, die Früchte auf dem
Felde u. ſ. w. participiren daran, und wer die Mauern ver-
letzt, die Gränzen verrückt, die Früchte bei nächtlicher Weile
ſtiehlt, der verſündigt ſich gegen die Götter und ladet den Zorn
derſelben und die ſchwerſte Strafe auf ſich.

Aber näher, als der Boden, ſteht den Göttern die ſittliche
Welt, die ſich darauf erhebt. Der Staat mit ſeiner Ordnung
iſt durch einen religiöſen Weiheakt unter den Schutz derſelben
geſtellt, gewiſſermaßen zu einem Gotteshaus gemacht, an dem
man ohne Willen der Götter, die es bewohnen, nichts ändern
darf. Wer gegen dieſe heilige Ordnung des Staats frevelt,
verſündigt ſich daher auch gegen die Götter. Kein Theil dieſes
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[268/0286] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. noch mehr ſagen will, einer geiſtlichen. Die Macht der Tradi- tion hielt hier den Einflüſſen der individuellen Meinung das Gegengewicht, der Wechſel der Mitglieder des Gerichts war unſchädlich. So war das geiſtliche Gericht der paſſende, abge- legene Ort, an dem der Ablagerungs-Prozeß des Rechts, wenn ich ſo ſagen darf, der Uebergang deſſelben aus dem Zuſtande der Flüſſigkeit und Formloſigkeit in den der Feſtigkeit und for- mellen Beſtimmtheit am ſicherſten und raſcheſten erfolgen konnte. Vielleicht haben wir uns mit dem Pontificalcollegium als der Behörde, in der das Fas ſich äußerlich darſtellte, ſchon zu weit von der älteſten Zeit entfernt, und wir kehren jetzt zu der- ſelben zurück, um die urſprünglichen Beziehungen der Religion zu Staat und Recht kennen zu lernen. Schon der Grund und Boden, den wir betreten, zeigt uns die Einwirkungen der Religion. Götter, Staat und Indivi- duen hatten ſich zu gleichen Theilen darin getheilt, aber nicht bloß das Drittheil der Götter genießt des Schutzes derſelben, auch die Mauern der Stadt, die Gränzen der Privatgrund- ſtücke, wie Steine, Bäume und Gräben, die Früchte auf dem Felde u. ſ. w. participiren daran, und wer die Mauern ver- letzt, die Gränzen verrückt, die Früchte bei nächtlicher Weile ſtiehlt, der verſündigt ſich gegen die Götter und ladet den Zorn derſelben und die ſchwerſte Strafe auf ſich. Aber näher, als der Boden, ſteht den Göttern die ſittliche Welt, die ſich darauf erhebt. Der Staat mit ſeiner Ordnung iſt durch einen religiöſen Weiheakt unter den Schutz derſelben geſtellt, gewiſſermaßen zu einem Gotteshaus gemacht, an dem man ohne Willen der Götter, die es bewohnen, nichts ändern darf. Wer gegen dieſe heilige Ordnung des Staats frevelt, verſündigt ſich daher auch gegen die Götter. Kein Theil dieſes Gebäudes, das nicht einem beſondern Gotte heilig wäre. Po-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/286>, abgerufen am 22.11.2024.