Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Lösung -- der Werth des römischen Rechts. §. 2.
Denn als das Volk, dem dasselbe angehörte, längst vom Schau-
platz abgetreten, als im Laufe der Jahrhunderte eine neue Welt
auf den Trümmern Roms sich gebildet hatte, da regte sich unter
ihnen das Recht dieses Volks, das wieder erwachte aus der
Erstarrung, der es lange verfallen gewesen. Wie es nun hervor-
trat in seinem fremdartigen, entstellten Aeußern, schwerfällig und
einem abgelebten Greise ähnlich, wer hätte da glauben sollen,
daß die blühenden, kräftigen Gestalten der jugendlichen Völker,
denen jetzt die Welt gehörte, sich vor diesem Fremdling beugen
und ihn an ihren Heerd aufnehmen würden; daß er aus einem
Lehrer allmählig ihr Gebieter werden und ihnen seine Gesetze
aufzwingen würde? Wenn man weiß, mit wie festen Banden,
mit wie viel tausend Fäden jedes Recht an das Volk seiner Hei-
math geknüpft ist; wenn man bedenkt, welchen Widerstand das
Nationalgefühl so wie das Leben mit seinen unendlichen Interessen
und Mitteln dem Eindringen eines fremden Rechts entgegenzu-
setzen vermag, so wird man ermessen, welche riesige Kraft dem
römischen Recht inne wohnen mußte, um diesen Widerstand zu
brechen und Völkern fremder Sprache und Sitte sein Joch auf-
zulegen. Mich hat jenes Wiedererwachen und das spätere Schick-
sal des römischen Rechts oft an ein bekanntes morgenländisches
Märchen erinnert. Ein Zauberer bannt einen Geist in ein ver-
schlossenes Gefäß. Lange liegt es verborgen auf dem Meeres-
grunde, bis es in die Netze eines Fischers geräth. Er öffnet es,
und damit erhält der gebannte Geist seine Freiheit zurück und
beginnt sofort, sie zum Heile oder Unheile des Finders zu benu-
tzen. So war auch der Genius des römischen Rechts zu einer
Unthätigkeit von Jahrhunderten verdammt, bis das Behältniß,
in das er im sechsten Jahrhundert eingeschlossen worden war,
wieder geöffnet ward, und jetzt strömte er aus fast über den
ganzen europäischen Continent, zerstörend und schaffend, und
keine Macht der Lebendigen war diesem Geiste des Alterthums
gewachsen.

In dieser Apotheose des römischen Rechts liegt die Größe

Die Löſung — der Werth des römiſchen Rechts. §. 2.
Denn als das Volk, dem daſſelbe angehörte, längſt vom Schau-
platz abgetreten, als im Laufe der Jahrhunderte eine neue Welt
auf den Trümmern Roms ſich gebildet hatte, da regte ſich unter
ihnen das Recht dieſes Volks, das wieder erwachte aus der
Erſtarrung, der es lange verfallen geweſen. Wie es nun hervor-
trat in ſeinem fremdartigen, entſtellten Aeußern, ſchwerfällig und
einem abgelebten Greiſe ähnlich, wer hätte da glauben ſollen,
daß die blühenden, kräftigen Geſtalten der jugendlichen Völker,
denen jetzt die Welt gehörte, ſich vor dieſem Fremdling beugen
und ihn an ihren Heerd aufnehmen würden; daß er aus einem
Lehrer allmählig ihr Gebieter werden und ihnen ſeine Geſetze
aufzwingen würde? Wenn man weiß, mit wie feſten Banden,
mit wie viel tauſend Fäden jedes Recht an das Volk ſeiner Hei-
math geknüpft iſt; wenn man bedenkt, welchen Widerſtand das
Nationalgefühl ſo wie das Leben mit ſeinen unendlichen Intereſſen
und Mitteln dem Eindringen eines fremden Rechts entgegenzu-
ſetzen vermag, ſo wird man ermeſſen, welche rieſige Kraft dem
römiſchen Recht inne wohnen mußte, um dieſen Widerſtand zu
brechen und Völkern fremder Sprache und Sitte ſein Joch auf-
zulegen. Mich hat jenes Wiedererwachen und das ſpätere Schick-
ſal des römiſchen Rechts oft an ein bekanntes morgenländiſches
Märchen erinnert. Ein Zauberer bannt einen Geiſt in ein ver-
ſchloſſenes Gefäß. Lange liegt es verborgen auf dem Meeres-
grunde, bis es in die Netze eines Fiſchers geräth. Er öffnet es,
und damit erhält der gebannte Geiſt ſeine Freiheit zurück und
beginnt ſofort, ſie zum Heile oder Unheile des Finders zu benu-
tzen. So war auch der Genius des römiſchen Rechts zu einer
Unthätigkeit von Jahrhunderten verdammt, bis das Behältniß,
in das er im ſechſten Jahrhundert eingeſchloſſen worden war,
wieder geöffnet ward, und jetzt ſtrömte er aus faſt über den
ganzen europäiſchen Continent, zerſtörend und ſchaffend, und
keine Macht der Lebendigen war dieſem Geiſte des Alterthums
gewachſen.

In dieſer Apotheoſe des römiſchen Rechts liegt die Größe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0025" n="7"/><fw place="top" type="header">Die Lö&#x017F;ung &#x2014; der Werth des römi&#x017F;chen Rechts. §. 2.</fw><lb/>
Denn als das Volk, dem da&#x017F;&#x017F;elbe angehörte, läng&#x017F;t vom Schau-<lb/>
platz abgetreten, als im Laufe der Jahrhunderte eine neue Welt<lb/>
auf den Trümmern Roms &#x017F;ich gebildet hatte, da regte &#x017F;ich unter<lb/>
ihnen das Recht die&#x017F;es Volks, das wieder erwachte aus der<lb/>
Er&#x017F;tarrung, der es lange verfallen gewe&#x017F;en. Wie es nun hervor-<lb/>
trat in &#x017F;einem fremdartigen, ent&#x017F;tellten Aeußern, &#x017F;chwerfällig und<lb/>
einem abgelebten Grei&#x017F;e ähnlich, wer hätte da glauben &#x017F;ollen,<lb/>
daß die blühenden, kräftigen Ge&#x017F;talten der jugendlichen Völker,<lb/>
denen jetzt die Welt gehörte, &#x017F;ich vor die&#x017F;em Fremdling beugen<lb/>
und ihn an ihren Heerd aufnehmen würden; daß er aus einem<lb/>
Lehrer allmählig ihr Gebieter werden und ihnen &#x017F;eine Ge&#x017F;etze<lb/>
aufzwingen würde? Wenn man weiß, mit wie fe&#x017F;ten Banden,<lb/>
mit wie viel tau&#x017F;end Fäden jedes Recht an das Volk &#x017F;einer Hei-<lb/>
math geknüpft i&#x017F;t; wenn man bedenkt, welchen Wider&#x017F;tand das<lb/>
Nationalgefühl &#x017F;o wie das Leben mit &#x017F;einen unendlichen Intere&#x017F;&#x017F;en<lb/>
und Mitteln dem Eindringen eines fremden Rechts entgegenzu-<lb/>
&#x017F;etzen vermag, &#x017F;o wird man erme&#x017F;&#x017F;en, welche rie&#x017F;ige Kraft dem<lb/>
römi&#x017F;chen Recht inne wohnen mußte, um die&#x017F;en Wider&#x017F;tand zu<lb/>
brechen und Völkern fremder Sprache und Sitte &#x017F;ein Joch auf-<lb/>
zulegen. Mich hat jenes Wiedererwachen und das &#x017F;pätere Schick-<lb/>
&#x017F;al des römi&#x017F;chen Rechts oft an ein bekanntes morgenländi&#x017F;ches<lb/>
Märchen erinnert. Ein Zauberer bannt einen Gei&#x017F;t in ein ver-<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enes Gefäß. Lange liegt es verborgen auf dem Meeres-<lb/>
grunde, bis es in die Netze eines Fi&#x017F;chers geräth. Er öffnet es,<lb/>
und damit erhält der gebannte Gei&#x017F;t &#x017F;eine Freiheit zurück und<lb/>
beginnt &#x017F;ofort, &#x017F;ie zum Heile oder Unheile des Finders zu benu-<lb/>
tzen. So war auch der Genius des römi&#x017F;chen Rechts zu einer<lb/>
Unthätigkeit von Jahrhunderten verdammt, bis das Behältniß,<lb/>
in das er im &#x017F;ech&#x017F;ten Jahrhundert einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en worden war,<lb/>
wieder geöffnet ward, und jetzt &#x017F;trömte er aus fa&#x017F;t über den<lb/>
ganzen europäi&#x017F;chen Continent, zer&#x017F;törend und &#x017F;chaffend, und<lb/>
keine Macht der Lebendigen war die&#x017F;em Gei&#x017F;te des Alterthums<lb/>
gewach&#x017F;en.</p><lb/>
            <p>In die&#x017F;er Apotheo&#x017F;e des römi&#x017F;chen Rechts liegt die Größe<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[7/0025] Die Löſung — der Werth des römiſchen Rechts. §. 2. Denn als das Volk, dem daſſelbe angehörte, längſt vom Schau- platz abgetreten, als im Laufe der Jahrhunderte eine neue Welt auf den Trümmern Roms ſich gebildet hatte, da regte ſich unter ihnen das Recht dieſes Volks, das wieder erwachte aus der Erſtarrung, der es lange verfallen geweſen. Wie es nun hervor- trat in ſeinem fremdartigen, entſtellten Aeußern, ſchwerfällig und einem abgelebten Greiſe ähnlich, wer hätte da glauben ſollen, daß die blühenden, kräftigen Geſtalten der jugendlichen Völker, denen jetzt die Welt gehörte, ſich vor dieſem Fremdling beugen und ihn an ihren Heerd aufnehmen würden; daß er aus einem Lehrer allmählig ihr Gebieter werden und ihnen ſeine Geſetze aufzwingen würde? Wenn man weiß, mit wie feſten Banden, mit wie viel tauſend Fäden jedes Recht an das Volk ſeiner Hei- math geknüpft iſt; wenn man bedenkt, welchen Widerſtand das Nationalgefühl ſo wie das Leben mit ſeinen unendlichen Intereſſen und Mitteln dem Eindringen eines fremden Rechts entgegenzu- ſetzen vermag, ſo wird man ermeſſen, welche rieſige Kraft dem römiſchen Recht inne wohnen mußte, um dieſen Widerſtand zu brechen und Völkern fremder Sprache und Sitte ſein Joch auf- zulegen. Mich hat jenes Wiedererwachen und das ſpätere Schick- ſal des römiſchen Rechts oft an ein bekanntes morgenländiſches Märchen erinnert. Ein Zauberer bannt einen Geiſt in ein ver- ſchloſſenes Gefäß. Lange liegt es verborgen auf dem Meeres- grunde, bis es in die Netze eines Fiſchers geräth. Er öffnet es, und damit erhält der gebannte Geiſt ſeine Freiheit zurück und beginnt ſofort, ſie zum Heile oder Unheile des Finders zu benu- tzen. So war auch der Genius des römiſchen Rechts zu einer Unthätigkeit von Jahrhunderten verdammt, bis das Behältniß, in das er im ſechſten Jahrhundert eingeſchloſſen worden war, wieder geöffnet ward, und jetzt ſtrömte er aus faſt über den ganzen europäiſchen Continent, zerſtörend und ſchaffend, und keine Macht der Lebendigen war dieſem Geiſte des Alterthums gewachſen. In dieſer Apotheoſe des römiſchen Rechts liegt die Größe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/25
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/25>, abgerufen am 24.11.2024.