derselben Idee, wie bei ihr, nämlich daß die Gemeinschaft kein Recht habe, den Einzelnen wegen seiner Unwürdigkeit zu strafen, wohl aber sich von ihm loszusagen.
Diese charakteristische Eigenthümlichkeit der censorinischen Strafen möge noch als Argument für meine Ansicht aufgeführt werden. 86) Der wahre, innere Grund derselben aber liegt darin, daß die römische Sittenpolizei ein Ausfluß des Familien- prinzips ist, in dem Maße, daß die Handhabung derselben von Seiten des Censors nicht bloß berechtigt, auf eine frühere Ausübung derselben durch die Gens zurückzuschließen, sondern selbst erst vermittelst dieser Anknüpfung an die Familie verständ- lich wird. Jene Gewalt des Censors konnte nur dadurch gedei- hen, daß sie ein Pfropfreis von der der Gens war; auf dem Boden der Gentilverfassung hatte sie sich erst bilden und entwickeln müssen, um sodann auch außerhalb desselben fortzukommen.
Dem bisherigen nach wird es keinem Bedenken unterliegen, dieser Sittenpolizei in ihrer ursprünglichen Gestalt mindestens denselben Umfang zuzuweisen, den sie später in den Händen des Censors hat. Es ist aber bekannt, daß der Censor nicht bloß wegen grausamer, unehrenhafter, unsittlicher Handlungen zur Verantwortung zog, sondern auch wegen verkehrter oder leicht- sinniger ökonomischer Lebensweise. Sein Einschreiten läßt sich auf den Gesichtspunkt zurückführen, daß es Statt fand, wo Jemand der stillschweigenden Voraussetzung, unter der das Recht ihm eine unbeschränkte Freiheit zugestanden hatte, näm- lich der eines würdigen, verständigen Gebrauchs nicht entspro- chen; es gewährte das außerhalb des Privatrechts liegende Tem- perament und Gegengewicht jener extremen Freiheit. So dürfen wir der gleichen Gewalt der Gens dieselbe Bedeutung für die älteste Zeit beilegen. Sie vermittelt das Prinzip des subjektiven Willens, das als solches kein höheres sittliches Motiv enthält,
86) Es wird auch der Spruch der Gens gerade wie der des Censors nota genannt. Liv. VI. 20 gentilicia nota adjecta.
Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
derſelben Idee, wie bei ihr, nämlich daß die Gemeinſchaft kein Recht habe, den Einzelnen wegen ſeiner Unwürdigkeit zu ſtrafen, wohl aber ſich von ihm loszuſagen.
Dieſe charakteriſtiſche Eigenthümlichkeit der cenſoriniſchen Strafen möge noch als Argument für meine Anſicht aufgeführt werden. 86) Der wahre, innere Grund derſelben aber liegt darin, daß die römiſche Sittenpolizei ein Ausfluß des Familien- prinzips iſt, in dem Maße, daß die Handhabung derſelben von Seiten des Cenſors nicht bloß berechtigt, auf eine frühere Ausübung derſelben durch die Gens zurückzuſchließen, ſondern ſelbſt erſt vermittelſt dieſer Anknüpfung an die Familie verſtänd- lich wird. Jene Gewalt des Cenſors konnte nur dadurch gedei- hen, daß ſie ein Pfropfreis von der der Gens war; auf dem Boden der Gentilverfaſſung hatte ſie ſich erſt bilden und entwickeln müſſen, um ſodann auch außerhalb deſſelben fortzukommen.
Dem bisherigen nach wird es keinem Bedenken unterliegen, dieſer Sittenpolizei in ihrer urſprünglichen Geſtalt mindeſtens denſelben Umfang zuzuweiſen, den ſie ſpäter in den Händen des Cenſors hat. Es iſt aber bekannt, daß der Cenſor nicht bloß wegen grauſamer, unehrenhafter, unſittlicher Handlungen zur Verantwortung zog, ſondern auch wegen verkehrter oder leicht- ſinniger ökonomiſcher Lebensweiſe. Sein Einſchreiten läßt ſich auf den Geſichtspunkt zurückführen, daß es Statt fand, wo Jemand der ſtillſchweigenden Vorausſetzung, unter der das Recht ihm eine unbeſchränkte Freiheit zugeſtanden hatte, näm- lich der eines würdigen, verſtändigen Gebrauchs nicht entſpro- chen; es gewährte das außerhalb des Privatrechts liegende Tem- perament und Gegengewicht jener extremen Freiheit. So dürfen wir der gleichen Gewalt der Gens dieſelbe Bedeutung für die älteſte Zeit beilegen. Sie vermittelt das Prinzip des ſubjektiven Willens, das als ſolches kein höheres ſittliches Motiv enthält,
86) Es wird auch der Spruch der Gens gerade wie der des Cenſors nota genannt. Liv. VI. 20 gentilicia nota adjecta.
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Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
derſelben Idee, wie bei ihr, nämlich daß die Gemeinſchaft kein
Recht habe, den Einzelnen wegen ſeiner Unwürdigkeit zu
ſtrafen, wohl aber ſich von ihm loszuſagen.
Dieſe charakteriſtiſche Eigenthümlichkeit der cenſoriniſchen
Strafen möge noch als Argument für meine Anſicht aufgeführt
werden. 86) Der wahre, innere Grund derſelben aber liegt darin,
daß die römiſche Sittenpolizei ein Ausfluß des Familien-
prinzips iſt, in dem Maße, daß die Handhabung derſelben
von Seiten des Cenſors nicht bloß berechtigt, auf eine frühere
Ausübung derſelben durch die Gens zurückzuſchließen, ſondern
ſelbſt erſt vermittelſt dieſer Anknüpfung an die Familie verſtänd-
lich wird. Jene Gewalt des Cenſors konnte nur dadurch gedei-
hen, daß ſie ein Pfropfreis von der der Gens war; auf dem
Boden der Gentilverfaſſung hatte ſie ſich erſt bilden und entwickeln
müſſen, um ſodann auch außerhalb deſſelben fortzukommen.
Dem bisherigen nach wird es keinem Bedenken unterliegen,
dieſer Sittenpolizei in ihrer urſprünglichen Geſtalt mindeſtens
denſelben Umfang zuzuweiſen, den ſie ſpäter in den Händen des
Cenſors hat. Es iſt aber bekannt, daß der Cenſor nicht bloß
wegen grauſamer, unehrenhafter, unſittlicher Handlungen zur
Verantwortung zog, ſondern auch wegen verkehrter oder leicht-
ſinniger ökonomiſcher Lebensweiſe. Sein Einſchreiten läßt ſich
auf den Geſichtspunkt zurückführen, daß es Statt fand, wo
Jemand der ſtillſchweigenden Vorausſetzung, unter der das
Recht ihm eine unbeſchränkte Freiheit zugeſtanden hatte, näm-
lich der eines würdigen, verſtändigen Gebrauchs nicht entſpro-
chen; es gewährte das außerhalb des Privatrechts liegende Tem-
perament und Gegengewicht jener extremen Freiheit. So dürfen
wir der gleichen Gewalt der Gens dieſelbe Bedeutung für die
älteſte Zeit beilegen. Sie vermittelt das Prinzip des ſubjektiven
Willens, das als ſolches kein höheres ſittliches Motiv enthält,
86) Es wird auch der Spruch der Gens gerade wie der des Cenſors
nota genannt. Liv. VI. 20 gentilicia nota adjecta.
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/196>, abgerufen am 26.07.2024.
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