sehr der Grund ihrer unverwüstlichen Widerstandskraft, als in ihrer dominirenden staatsrechtlichen Stellung.
Es liegt auf der Hand, daß diesem Anrecht, das der Ein- zelne an der Gens hatte, Beschränkungen und Verpflichtungen von seiner Seite correspondiren mußten. War er auf die Gens, so war sie wiederum auf ihn verwiesen; beide Seiten dieses Verhältnisses waren Ausflüsse desselben Familienprinzips und bedingten sich gegenseitig.
Der Gesichtspunkt, der diesen Beschränkungen, die wir gleich im einzelnen kennen lernen wollen, zu Grunde liegt, ist der eines coordinirten Verhältnisses sämmtlicher Gentilen, das gegenseitige Rechte und Verpflichtungen mit sich führt. Ich muß diese Bemerkung um so mehr betonen, als der Anschein mit ihr in Widerspruch steht, die richtige Auffassung jenes Verhältnis- ses meiner Ansicht nach aber eine den engen Kreis der Gens weit überragende Bedeutung hat. Es soll im folgenden Para- graphen nachgewiesen werden, daß auch das Verhältniß des Einzelnen sowie der Gens zum Gesammtstaat das der Coordina- tion ist, und nur innerhalb der Wehrverfassung eine Subordi- nation hervortritt. Insofern nun der Gesammtstaat nur eine Gens im vergrößerten Maßstabe ist, sowie man die Gens einen Staat im verkleinerten nennen kann, müssen wir bereits hier jenes durchgehende Verhältniß der staatlichen Gemeinschaft ge- nau ins Auge fassen. Die Beschränkungen, die wir hier finden werden, wiederholen sich dort; überzeugen wir uns hier gleich, daß sie nicht auf der Idee staatlicher Unterordnung beruhen.
Die Gens ist nichts, als der Complex sämmtlicher Gentilen, und ihre Bezeichnung mit dem Ausdruck: gentiles drückt mit einem Wort das wahre Wesen derselben aus. Ist sie nämlich nur der Complex der Gentilen, so kann sie auch keine höhere Macht haben, als letztere selbst oder mit andern Worten das einzelne Mitglied steht nicht unter der Gens, sondern neben den Gentilen. Das Verhältniß wird dadurch kein anderes, daß dieselben einen aus ihrer Mitte zum Vorsteher (decurio) wäh-
Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
ſehr der Grund ihrer unverwüſtlichen Widerſtandskraft, als in ihrer dominirenden ſtaatsrechtlichen Stellung.
Es liegt auf der Hand, daß dieſem Anrecht, das der Ein- zelne an der Gens hatte, Beſchränkungen und Verpflichtungen von ſeiner Seite correſpondiren mußten. War er auf die Gens, ſo war ſie wiederum auf ihn verwieſen; beide Seiten dieſes Verhältniſſes waren Ausflüſſe deſſelben Familienprinzips und bedingten ſich gegenſeitig.
Der Geſichtspunkt, der dieſen Beſchränkungen, die wir gleich im einzelnen kennen lernen wollen, zu Grunde liegt, iſt der eines coordinirten Verhältniſſes ſämmtlicher Gentilen, das gegenſeitige Rechte und Verpflichtungen mit ſich führt. Ich muß dieſe Bemerkung um ſo mehr betonen, als der Anſchein mit ihr in Widerſpruch ſteht, die richtige Auffaſſung jenes Verhältniſ- ſes meiner Anſicht nach aber eine den engen Kreis der Gens weit überragende Bedeutung hat. Es ſoll im folgenden Para- graphen nachgewieſen werden, daß auch das Verhältniß des Einzelnen ſowie der Gens zum Geſammtſtaat das der Coordina- tion iſt, und nur innerhalb der Wehrverfaſſung eine Subordi- nation hervortritt. Inſofern nun der Geſammtſtaat nur eine Gens im vergrößerten Maßſtabe iſt, ſowie man die Gens einen Staat im verkleinerten nennen kann, müſſen wir bereits hier jenes durchgehende Verhältniß der ſtaatlichen Gemeinſchaft ge- nau ins Auge faſſen. Die Beſchränkungen, die wir hier finden werden, wiederholen ſich dort; überzeugen wir uns hier gleich, daß ſie nicht auf der Idee ſtaatlicher Unterordnung beruhen.
Die Gens iſt nichts, als der Complex ſämmtlicher Gentilen, und ihre Bezeichnung mit dem Ausdruck: gentiles drückt mit einem Wort das wahre Weſen derſelben aus. Iſt ſie nämlich nur der Complex der Gentilen, ſo kann ſie auch keine höhere Macht haben, als letztere ſelbſt oder mit andern Worten das einzelne Mitglied ſteht nicht unter der Gens, ſondern neben den Gentilen. Das Verhältniß wird dadurch kein anderes, daß dieſelben einen aus ihrer Mitte zum Vorſteher (decurio) wäh-
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Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
ſehr der Grund ihrer unverwüſtlichen Widerſtandskraft, als in
ihrer dominirenden ſtaatsrechtlichen Stellung.
Es liegt auf der Hand, daß dieſem Anrecht, das der Ein-
zelne an der Gens hatte, Beſchränkungen und Verpflichtungen
von ſeiner Seite correſpondiren mußten. War er auf die Gens,
ſo war ſie wiederum auf ihn verwieſen; beide Seiten dieſes
Verhältniſſes waren Ausflüſſe deſſelben Familienprinzips und
bedingten ſich gegenſeitig.
Der Geſichtspunkt, der dieſen Beſchränkungen, die wir
gleich im einzelnen kennen lernen wollen, zu Grunde liegt, iſt
der eines coordinirten Verhältniſſes ſämmtlicher Gentilen, das
gegenſeitige Rechte und Verpflichtungen mit ſich führt. Ich muß
dieſe Bemerkung um ſo mehr betonen, als der Anſchein mit ihr
in Widerſpruch ſteht, die richtige Auffaſſung jenes Verhältniſ-
ſes meiner Anſicht nach aber eine den engen Kreis der Gens
weit überragende Bedeutung hat. Es ſoll im folgenden Para-
graphen nachgewieſen werden, daß auch das Verhältniß des
Einzelnen ſowie der Gens zum Geſammtſtaat das der Coordina-
tion iſt, und nur innerhalb der Wehrverfaſſung eine Subordi-
nation hervortritt. Inſofern nun der Geſammtſtaat nur eine
Gens im vergrößerten Maßſtabe iſt, ſowie man die Gens einen
Staat im verkleinerten nennen kann, müſſen wir bereits hier
jenes durchgehende Verhältniß der ſtaatlichen Gemeinſchaft ge-
nau ins Auge faſſen. Die Beſchränkungen, die wir hier finden
werden, wiederholen ſich dort; überzeugen wir uns hier gleich,
daß ſie nicht auf der Idee ſtaatlicher Unterordnung beruhen.
Die Gens iſt nichts, als der Complex ſämmtlicher Gentilen,
und ihre Bezeichnung mit dem Ausdruck: gentiles drückt mit
einem Wort das wahre Weſen derſelben aus. Iſt ſie nämlich
nur der Complex der Gentilen, ſo kann ſie auch keine höhere
Macht haben, als letztere ſelbſt oder mit andern Worten das
einzelne Mitglied ſteht nicht unter der Gens, ſondern neben
den Gentilen. Das Verhältniß wird dadurch kein anderes, daß
dieſelben einen aus ihrer Mitte zum Vorſteher (decurio) wäh-
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/192>, abgerufen am 05.07.2024.
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