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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des röm. Rechts.

Darum endlich ist die richterliche Sentenz kein an die ver-
lierende Parthei gerichtetes Gebot oder Verbot, sondern eine
bloße Meinung "sententia", eine Erklärung "pronun-
tiatio",
die der Richter über die Streitfrage abgibt. Am klar-
sten tritt dies hervor in der ältesten Prozeßform, der legis actio
sacramento.
Der Prozeß wird hier in die Form einer Wette
gekleidet und jede Parthei deponirt eine bestimmte Summe (sa-
cramentum),
74) deren sie im Fall des Unterliegens verlustig
geht. Dem Richter wird diese Wette zur Entscheidung vorge-
legt, und er erkennt in der Form, daß er das sacramentum
der Parthei, die in seinen Augen Recht hat, für justum, das
der andern also für verloren erklärt. Von einer Verurtheilung
ist dabei keine Rede, ja der Anspruch, der zum Prozeß Ver-
anlassung gab, wird im Urtheil gar nicht einmal erwähnt; es
wird ostensibel über eine ganz andere Frage erkannt, als um die
es den Partheien eigentlich zu thun ist, und nur mittelbar wird
auch letztere entschieden. Wie wenig aber selbst dieser mittelba-
ren Entscheidung die Idee einer Verurtheilung inne wohnt, geht
am besten daraus hervor, daß die Anwendung dieser Prozeß-
form in Fällen vorkam, wo eine Verurtheilung oder Exekution
undenkbar war, weil es sich gar nicht um einen rechtlichen An-
spruch, sondern um den Beweis einer beliebigen Behauptung
handelte. 75) Auch im spätern Recht noch erhielt sich für manche
Fälle, namentlich für solche, bei denen die Klage nicht auf Geld
und Geldeswerth lautete, eine ähnliche Urtheilsform, die pro-

74) Beim religiösen Prinzip kommen wir auf das sacramentum zurück.
75) Valerius Maximus Lib. II. c. 8. no. 74 berichtet uns, daß der
Streit zwischen einem Consul und Prätor, wer von beiden das Verdienst ei-
ner siegreichen Seeschlacht habe, und wem daher der Triumph hätte bewilligt
werden müssen, in dieser Weise zum Gegenstand eines Prozesses gemacht sei;
nur daß hier statt der ältern Form des sacramentum die neuere der sponsio
benutzt wird. Valerius sponsione Lutatium provocavit: "ni suo ductu
Punica classis esset oppressa." Nec dubitavit restipulari Lutatius.
Itaque judex inter eos convenit Atilius Calatinus.
Letzterer gibt seine
Entscheidung mit Worten ab: secundum te litem do.
Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.

Darum endlich iſt die richterliche Sentenz kein an die ver-
lierende Parthei gerichtetes Gebot oder Verbot, ſondern eine
bloße Meinung „sententia“, eine Erklärung „pronun-
tiatio“,
die der Richter über die Streitfrage abgibt. Am klar-
ſten tritt dies hervor in der älteſten Prozeßform, der legis actio
sacramento.
Der Prozeß wird hier in die Form einer Wette
gekleidet und jede Parthei deponirt eine beſtimmte Summe (sa-
cramentum),
74) deren ſie im Fall des Unterliegens verluſtig
geht. Dem Richter wird dieſe Wette zur Entſcheidung vorge-
legt, und er erkennt in der Form, daß er das sacramentum
der Parthei, die in ſeinen Augen Recht hat, für justum, das
der andern alſo für verloren erklärt. Von einer Verurtheilung
iſt dabei keine Rede, ja der Anſpruch, der zum Prozeß Ver-
anlaſſung gab, wird im Urtheil gar nicht einmal erwähnt; es
wird oſtenſibel über eine ganz andere Frage erkannt, als um die
es den Partheien eigentlich zu thun iſt, und nur mittelbar wird
auch letztere entſchieden. Wie wenig aber ſelbſt dieſer mittelba-
ren Entſcheidung die Idee einer Verurtheilung inne wohnt, geht
am beſten daraus hervor, daß die Anwendung dieſer Prozeß-
form in Fällen vorkam, wo eine Verurtheilung oder Exekution
undenkbar war, weil es ſich gar nicht um einen rechtlichen An-
ſpruch, ſondern um den Beweis einer beliebigen Behauptung
handelte. 75) Auch im ſpätern Recht noch erhielt ſich für manche
Fälle, namentlich für ſolche, bei denen die Klage nicht auf Geld
und Geldeswerth lautete, eine ähnliche Urtheilsform, die pro-

74) Beim religiöſen Prinzip kommen wir auf das sacramentum zurück.
75) Valerius Maximus Lib. II. c. 8. no. 74 berichtet uns, daß der
Streit zwiſchen einem Conſul und Prätor, wer von beiden das Verdienſt ei-
ner ſiegreichen Seeſchlacht habe, und wem daher der Triumph hätte bewilligt
werden müſſen, in dieſer Weiſe zum Gegenſtand eines Prozeſſes gemacht ſei;
nur daß hier ſtatt der ältern Form des sacramentum die neuere der sponsio
benutzt wird. Valerius sponsione Lutatium provocavit: „ni suo ductu
Punica classis esset oppressa.“ Nec dubitavit restipulari Lutatius.
Itaque judex inter eos convenit Atilius Calatinus.
Letzterer gibt ſeine
Entſcheidung mit Worten ab: secundum te litem do.
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[158/0176] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts. Darum endlich iſt die richterliche Sentenz kein an die ver- lierende Parthei gerichtetes Gebot oder Verbot, ſondern eine bloße Meinung „sententia“, eine Erklärung „pronun- tiatio“, die der Richter über die Streitfrage abgibt. Am klar- ſten tritt dies hervor in der älteſten Prozeßform, der legis actio sacramento. Der Prozeß wird hier in die Form einer Wette gekleidet und jede Parthei deponirt eine beſtimmte Summe (sa- cramentum), 74) deren ſie im Fall des Unterliegens verluſtig geht. Dem Richter wird dieſe Wette zur Entſcheidung vorge- legt, und er erkennt in der Form, daß er das sacramentum der Parthei, die in ſeinen Augen Recht hat, für justum, das der andern alſo für verloren erklärt. Von einer Verurtheilung iſt dabei keine Rede, ja der Anſpruch, der zum Prozeß Ver- anlaſſung gab, wird im Urtheil gar nicht einmal erwähnt; es wird oſtenſibel über eine ganz andere Frage erkannt, als um die es den Partheien eigentlich zu thun iſt, und nur mittelbar wird auch letztere entſchieden. Wie wenig aber ſelbſt dieſer mittelba- ren Entſcheidung die Idee einer Verurtheilung inne wohnt, geht am beſten daraus hervor, daß die Anwendung dieſer Prozeß- form in Fällen vorkam, wo eine Verurtheilung oder Exekution undenkbar war, weil es ſich gar nicht um einen rechtlichen An- ſpruch, ſondern um den Beweis einer beliebigen Behauptung handelte. 75) Auch im ſpätern Recht noch erhielt ſich für manche Fälle, namentlich für ſolche, bei denen die Klage nicht auf Geld und Geldeswerth lautete, eine ähnliche Urtheilsform, die pro- 74) Beim religiöſen Prinzip kommen wir auf das sacramentum zurück. 75) Valerius Maximus Lib. II. c. 8. no. 74 berichtet uns, daß der Streit zwiſchen einem Conſul und Prätor, wer von beiden das Verdienſt ei- ner ſiegreichen Seeſchlacht habe, und wem daher der Triumph hätte bewilligt werden müſſen, in dieſer Weiſe zum Gegenſtand eines Prozeſſes gemacht ſei; nur daß hier ſtatt der ältern Form des sacramentum die neuere der sponsio benutzt wird. Valerius sponsione Lutatium provocavit: „ni suo ductu Punica classis esset oppressa.“ Nec dubitavit restipulari Lutatius. Itaque judex inter eos convenit Atilius Calatinus. Letzterer gibt ſeine Entſcheidung mit Worten ab: secundum te litem do.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/176>, abgerufen am 24.11.2024.