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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des röm. Rechts.
Wer eine bewegliche Sache, die ihm abhanden gekommen war,
bei irgend einem Dritten antraf, konnte sich unter gewissen
Voraussetzungen 66) derselben gewaltsam bemächtigen; dem ge-
genwärtigen Innehaber ward jeder Rechtsschutz versagt. Bei
unbeweglichen Sachen ging man nicht soweit, sondern verstat-
tete die gewaltsame Dejection nur gegen den, der entweder das
Grundstück bloß im Namen des andern detinirte oder, wie man
es ausdrückte, ihm gegenüber eine injusta possessio hatte. 67)
Fehlte es an diesen Voraussetzungen, so mußte der Dejicient,
ohne daß er mit der Berufung auf sein etwaiges Eigenthum ge-
hört ward, den Besitz vorläufig restituiren.

Es gab aber einen andern Weg, der ihn sicherer zum Ziele
führte; er mußte nämlich, anstatt seinem Gegner gewaltsam die
Sache zu entreißen, ihn durch Drohungen zu zwingen suchen,
daß er selbst ihm dieselbe auslieferte. Das ältere Recht gab dem
Gezwungenen keine Klage auf Aufhebung des von ihm einge-
gangenen Geschäfts, indem es sich durch die Ansicht bestimmen
ließ, daß Niemand sich zwingen lassen solle. Aber selbst als der
Prätor eine solche Klage eingeführt hatte, lehrten doch noch die
römischen Juristen, daß wer gezwungen worden sei zu zahlen
oder herauszugeben, was er schuldig war, sich dieser Klage nicht
bedienen könne. 68) Bewies also der Zwingende nur die Existenz
seines Rechts, so traf ihn nicht nur keine Strafe, sondern er
behielt, was er hatte.

66) Im interdictum utrubi waren sie angegeben.
67) Z. B. also gegen den Pächter, Miether, bei beweglichen Sachen gegen
den Depositar, Commodatar, Mandatar u. s. w.; ferner gegen den, der sich
gewaltsam oder heimlich den Besitz verschafft oder ihn nur auf Widerruf er-
halten hatte. Die römische Besitztheorie brachte diese Fälle, in denen nach
natürlicher Auffassung eine Selbsthülfe vorliegt, dadurch unter den Gesichts-
punkt des Schutzes im Besitz, der Defensive, daß sie den Besitz des Angegrif-
fenen als factische Detention oder fehlerhaften Besitz qualificirte und dem An-
greifenden den gegenwärtigen Besitz zuschrieb.
68) L. 1. §. 2. quod met. c. (4. 2). Die wenn auch erzwungene Zah-
lung der Schuld wurde nämlich nicht als ein erlittener Schaden betrachtet.

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
Wer eine bewegliche Sache, die ihm abhanden gekommen war,
bei irgend einem Dritten antraf, konnte ſich unter gewiſſen
Vorausſetzungen 66) derſelben gewaltſam bemächtigen; dem ge-
genwärtigen Innehaber ward jeder Rechtsſchutz verſagt. Bei
unbeweglichen Sachen ging man nicht ſoweit, ſondern verſtat-
tete die gewaltſame Dejection nur gegen den, der entweder das
Grundſtück bloß im Namen des andern detinirte oder, wie man
es ausdrückte, ihm gegenüber eine injusta possessio hatte. 67)
Fehlte es an dieſen Vorausſetzungen, ſo mußte der Dejicient,
ohne daß er mit der Berufung auf ſein etwaiges Eigenthum ge-
hört ward, den Beſitz vorläufig reſtituiren.

Es gab aber einen andern Weg, der ihn ſicherer zum Ziele
führte; er mußte nämlich, anſtatt ſeinem Gegner gewaltſam die
Sache zu entreißen, ihn durch Drohungen zu zwingen ſuchen,
daß er ſelbſt ihm dieſelbe auslieferte. Das ältere Recht gab dem
Gezwungenen keine Klage auf Aufhebung des von ihm einge-
gangenen Geſchäfts, indem es ſich durch die Anſicht beſtimmen
ließ, daß Niemand ſich zwingen laſſen ſolle. Aber ſelbſt als der
Prätor eine ſolche Klage eingeführt hatte, lehrten doch noch die
römiſchen Juriſten, daß wer gezwungen worden ſei zu zahlen
oder herauszugeben, was er ſchuldig war, ſich dieſer Klage nicht
bedienen könne. 68) Bewies alſo der Zwingende nur die Exiſtenz
ſeines Rechts, ſo traf ihn nicht nur keine Strafe, ſondern er
behielt, was er hatte.

66) Im interdictum utrubi waren ſie angegeben.
67) Z. B. alſo gegen den Pächter, Miether, bei beweglichen Sachen gegen
den Depoſitar, Commodatar, Mandatar u. ſ. w.; ferner gegen den, der ſich
gewaltſam oder heimlich den Beſitz verſchafft oder ihn nur auf Widerruf er-
halten hatte. Die römiſche Beſitztheorie brachte dieſe Fälle, in denen nach
natürlicher Auffaſſung eine Selbſthülfe vorliegt, dadurch unter den Geſichts-
punkt des Schutzes im Beſitz, der Defenſive, daß ſie den Beſitz des Angegrif-
fenen als factiſche Detention oder fehlerhaften Beſitz qualificirte und dem An-
greifenden den gegenwärtigen Beſitz zuſchrieb.
68) L. 1. §. 2. quod met. c. (4. 2). Die wenn auch erzwungene Zah-
lung der Schuld wurde nämlich nicht als ein erlittener Schaden betrachtet.
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[152/0170] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts. Wer eine bewegliche Sache, die ihm abhanden gekommen war, bei irgend einem Dritten antraf, konnte ſich unter gewiſſen Vorausſetzungen 66) derſelben gewaltſam bemächtigen; dem ge- genwärtigen Innehaber ward jeder Rechtsſchutz verſagt. Bei unbeweglichen Sachen ging man nicht ſoweit, ſondern verſtat- tete die gewaltſame Dejection nur gegen den, der entweder das Grundſtück bloß im Namen des andern detinirte oder, wie man es ausdrückte, ihm gegenüber eine injusta possessio hatte. 67) Fehlte es an dieſen Vorausſetzungen, ſo mußte der Dejicient, ohne daß er mit der Berufung auf ſein etwaiges Eigenthum ge- hört ward, den Beſitz vorläufig reſtituiren. Es gab aber einen andern Weg, der ihn ſicherer zum Ziele führte; er mußte nämlich, anſtatt ſeinem Gegner gewaltſam die Sache zu entreißen, ihn durch Drohungen zu zwingen ſuchen, daß er ſelbſt ihm dieſelbe auslieferte. Das ältere Recht gab dem Gezwungenen keine Klage auf Aufhebung des von ihm einge- gangenen Geſchäfts, indem es ſich durch die Anſicht beſtimmen ließ, daß Niemand ſich zwingen laſſen ſolle. Aber ſelbſt als der Prätor eine ſolche Klage eingeführt hatte, lehrten doch noch die römiſchen Juriſten, daß wer gezwungen worden ſei zu zahlen oder herauszugeben, was er ſchuldig war, ſich dieſer Klage nicht bedienen könne. 68) Bewies alſo der Zwingende nur die Exiſtenz ſeines Rechts, ſo traf ihn nicht nur keine Strafe, ſondern er behielt, was er hatte. 66) Im interdictum utrubi waren ſie angegeben. 67) Z. B. alſo gegen den Pächter, Miether, bei beweglichen Sachen gegen den Depoſitar, Commodatar, Mandatar u. ſ. w.; ferner gegen den, der ſich gewaltſam oder heimlich den Beſitz verſchafft oder ihn nur auf Widerruf er- halten hatte. Die römiſche Beſitztheorie brachte dieſe Fälle, in denen nach natürlicher Auffaſſung eine Selbſthülfe vorliegt, dadurch unter den Geſichts- punkt des Schutzes im Beſitz, der Defenſive, daß ſie den Beſitz des Angegrif- fenen als factiſche Detention oder fehlerhaften Beſitz qualificirte und dem An- greifenden den gegenwärtigen Beſitz zuſchrieb. 68) L. 1. §. 2. quod met. c. (4. 2). Die wenn auch erzwungene Zah- lung der Schuld wurde nämlich nicht als ein erlittener Schaden betrachtet.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/170>, abgerufen am 24.11.2024.