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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
der vindicta der Vindikation durchschimmert. 28) In beiden
Fällen geht die älteste Anschauung von dem Gesichtspunkt der
persönlichen Kränkung und Verletzung aus; ob der Dieb mich
hat bestehlen wollen, oder der Schuldner mir die Schuld nicht
entrichtet, macht keinen Unterschied, beide afficiren mit meinem
Vermögen zugleich meine Persönlichkeit. Darum trifft auch noch
nach den XII Tafeln beide gleiche Strafe, ja den zahlungsun-
fähigen Schuldner im Fall des Concurses die grausamste Strafe,
die das Gesetz überhaupt kennt. Da die folgende Darstellung
uns zwingen wird, den Cardinalpunkt, worauf diese Identität
der Privatrache und Selbsthülfe beruht, nämlich die enge Ver-
bindung zwischen Person und Vermögen, bei einer andern Ge-
legenheit hervorzuheben, so dürfen wir hier darauf verweisen,
müssen aber nochmals bemerken, daß, wenn wir fortan Selbst-
hülfe und Privatrache unterscheiden, wir uns dieser Abstraction
einer spätern Zeit nur im Interesse unseres an die Spitze gestell-
ten Gesichtspunktes, der Zweifellosigkeit des Anspruches bedienen.

Wir betrachten zuerst die Selbsthülfe gegen ein begangenes
Delikt, die Privatrache. Das römische Recht hat uns noch
manche Spuren derselben erhalten. 29) Wenn der Ehemann, der
den Ehebrecher auf der That ertappt, im gerechten Zorn ihn
tödtet, so sichert noch das spätere Recht ihm Straflosigkeit zu.
Hinsichtlich des Diebes, der bei Nachtzeit stiehlt, erlauben die
XII Tafeln dasselbe, bei Tage aber, wenn er sich zur Wehr setzt;
unter allen Umständen fällt der ertappte Dieb (fur manifestus)
durch Addiction von Seiten der Obrigkeit dem Bestohlenen
zu. 30) Bei gewissen körperlichen Verletzungen (membrum rup-
tum
) spricht jenes Gesetz die Strafe der Talion aus.

In allen diesen drei Fällen war das Unrecht des Delin-

28) Hierüber und zugleich über die Ableitung des Wortes von vis
s. §. 12.
29) Die Literatur ist sorgfältig zusammengestellt von Rein Kriminal-
recht der Römer. S. 36 u. fl.
30) Es war zweifelhaft, ob als Sklav oder adjudicatus Gaj. III. §. 189.

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
der vindicta der Vindikation durchſchimmert. 28) In beiden
Fällen geht die älteſte Anſchauung von dem Geſichtspunkt der
perſönlichen Kränkung und Verletzung aus; ob der Dieb mich
hat beſtehlen wollen, oder der Schuldner mir die Schuld nicht
entrichtet, macht keinen Unterſchied, beide afficiren mit meinem
Vermögen zugleich meine Perſönlichkeit. Darum trifft auch noch
nach den XII Tafeln beide gleiche Strafe, ja den zahlungsun-
fähigen Schuldner im Fall des Concurſes die grauſamſte Strafe,
die das Geſetz überhaupt kennt. Da die folgende Darſtellung
uns zwingen wird, den Cardinalpunkt, worauf dieſe Identität
der Privatrache und Selbſthülfe beruht, nämlich die enge Ver-
bindung zwiſchen Perſon und Vermögen, bei einer andern Ge-
legenheit hervorzuheben, ſo dürfen wir hier darauf verweiſen,
müſſen aber nochmals bemerken, daß, wenn wir fortan Selbſt-
hülfe und Privatrache unterſcheiden, wir uns dieſer Abſtraction
einer ſpätern Zeit nur im Intereſſe unſeres an die Spitze geſtell-
ten Geſichtspunktes, der Zweifelloſigkeit des Anſpruches bedienen.

Wir betrachten zuerſt die Selbſthülfe gegen ein begangenes
Delikt, die Privatrache. Das römiſche Recht hat uns noch
manche Spuren derſelben erhalten. 29) Wenn der Ehemann, der
den Ehebrecher auf der That ertappt, im gerechten Zorn ihn
tödtet, ſo ſichert noch das ſpätere Recht ihm Strafloſigkeit zu.
Hinſichtlich des Diebes, der bei Nachtzeit ſtiehlt, erlauben die
XII Tafeln daſſelbe, bei Tage aber, wenn er ſich zur Wehr ſetzt;
unter allen Umſtänden fällt der ertappte Dieb (fur manifestus)
durch Addiction von Seiten der Obrigkeit dem Beſtohlenen
zu. 30) Bei gewiſſen körperlichen Verletzungen (membrum rup-
tum
) ſpricht jenes Geſetz die Strafe der Talion aus.

In allen dieſen drei Fällen war das Unrecht des Delin-

28) Hierüber und zugleich über die Ableitung des Wortes von vis
ſ. §. 12.
29) Die Literatur iſt ſorgfältig zuſammengeſtellt von Rein Kriminal-
recht der Römer. S. 36 u. fl.
30) Es war zweifelhaft, ob als Sklav oder adjudicatus Gaj. III. §. 189.
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[122/0140] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. der vindicta der Vindikation durchſchimmert. 28) In beiden Fällen geht die älteſte Anſchauung von dem Geſichtspunkt der perſönlichen Kränkung und Verletzung aus; ob der Dieb mich hat beſtehlen wollen, oder der Schuldner mir die Schuld nicht entrichtet, macht keinen Unterſchied, beide afficiren mit meinem Vermögen zugleich meine Perſönlichkeit. Darum trifft auch noch nach den XII Tafeln beide gleiche Strafe, ja den zahlungsun- fähigen Schuldner im Fall des Concurſes die grauſamſte Strafe, die das Geſetz überhaupt kennt. Da die folgende Darſtellung uns zwingen wird, den Cardinalpunkt, worauf dieſe Identität der Privatrache und Selbſthülfe beruht, nämlich die enge Ver- bindung zwiſchen Perſon und Vermögen, bei einer andern Ge- legenheit hervorzuheben, ſo dürfen wir hier darauf verweiſen, müſſen aber nochmals bemerken, daß, wenn wir fortan Selbſt- hülfe und Privatrache unterſcheiden, wir uns dieſer Abſtraction einer ſpätern Zeit nur im Intereſſe unſeres an die Spitze geſtell- ten Geſichtspunktes, der Zweifelloſigkeit des Anſpruches bedienen. Wir betrachten zuerſt die Selbſthülfe gegen ein begangenes Delikt, die Privatrache. Das römiſche Recht hat uns noch manche Spuren derſelben erhalten. 29) Wenn der Ehemann, der den Ehebrecher auf der That ertappt, im gerechten Zorn ihn tödtet, ſo ſichert noch das ſpätere Recht ihm Strafloſigkeit zu. Hinſichtlich des Diebes, der bei Nachtzeit ſtiehlt, erlauben die XII Tafeln daſſelbe, bei Tage aber, wenn er ſich zur Wehr ſetzt; unter allen Umſtänden fällt der ertappte Dieb (fur manifestus) durch Addiction von Seiten der Obrigkeit dem Beſtohlenen zu. 30) Bei gewiſſen körperlichen Verletzungen (membrum rup- tum) ſpricht jenes Geſetz die Strafe der Talion aus. In allen dieſen drei Fällen war das Unrecht des Delin- 28) Hierüber und zugleich über die Ableitung des Wortes von vis ſ. §. 12. 29) Die Literatur iſt ſorgfältig zuſammengeſtellt von Rein Kriminal- recht der Römer. S. 36 u. fl. 30) Es war zweifelhaft, ob als Sklav oder adjudicatus Gaj. III. §. 189.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/140>, abgerufen am 22.11.2024.