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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Anfangspunkt der Rechtsgeschichte. §. 9.
scheiden, den römischen Staat und das römische Recht als fer-
tige Thatsachen entgegenzunehmen und wir brauchten oder rich-
tiger wir dürften gar nicht die Frage aufwerfen, wie sich beide
von jenem ersten Keim aus entwickelt hätten. Ließe sich auf
jene Frage nur mit vagen Muthmaßungen antworten, deutete
keine Spur den Weg an, den die Geschichte, um vom Indivi-
duum zum Staat zu gelangen zurückgelegt hat, dann wäre die
Abweisung jener Frage durchaus gerechtfertigt. Wenn es sich
aber entgegengesetzt verhält -- und ich glaube, daß dies hinsichtlich
des römischen Rechts der Fall ist -- warum mit einem solchen
Lehrsatz der Wißbegierde entgegentreten, warum nicht die Ge-
legenheit benutzen, die Wurzeln des Baumes, die ein glück-
licher Zufall entblößt hat, kennen zu lernen? Staat und Recht
sind nicht über Nacht und auf geheimnißvolle Weise zur Welt
gekommen, wir können nicht einen bestimmten historischen Mo-
ment bezeichnen, wo der Staat anfienge, und vor dem ein recht-
loser Zustand existirt hätte. Wenn Recht und Staat nicht im
Individuum ihren innerlichen Grund hätten, wenn nicht schon
jede dauernde Gemeinschaft von Individuen eine rechts- und
staatsbildende Kraft in sich trüge: woher wäre denn Recht und
Staat in die Welt gekommen? Können wir also diese Abstam-
mung des Rechts und Staats aus der Gemeinschaft der Indi-
viduen irgendwo noch erkennen: warum unsere Augen verschlie-
ßen? Und wo wir sie nicht mehr erkennen können: warum uns
da nicht bewußt werden, wie weit Staat und Recht hier von
jenem nothwendigen Ausgangspunkt sich bereits entfernt haben?
Ich meine, daß jede Rechtsgeschichte damit beginnen sollte, sich
dieser Entfernung bewußt zu werden und zu versuchen, ob sie
noch die Verbindungslinie zwischen Staat und Recht, wie sie
ihr in der Geschichte zuerst entgegentreten, auf der einen Seite
und dem Individuum oder der Gemeinschaft der Individuen
auf der andern Seite erkennen kann; nicht mit der Idee ans
Werk gehn, daß nur der fertige Staat sie interessiren dürfe,

Anfangspunkt der Rechtsgeſchichte. §. 9.
ſcheiden, den römiſchen Staat und das römiſche Recht als fer-
tige Thatſachen entgegenzunehmen und wir brauchten oder rich-
tiger wir dürften gar nicht die Frage aufwerfen, wie ſich beide
von jenem erſten Keim aus entwickelt hätten. Ließe ſich auf
jene Frage nur mit vagen Muthmaßungen antworten, deutete
keine Spur den Weg an, den die Geſchichte, um vom Indivi-
duum zum Staat zu gelangen zurückgelegt hat, dann wäre die
Abweiſung jener Frage durchaus gerechtfertigt. Wenn es ſich
aber entgegengeſetzt verhält — und ich glaube, daß dies hinſichtlich
des römiſchen Rechts der Fall iſt — warum mit einem ſolchen
Lehrſatz der Wißbegierde entgegentreten, warum nicht die Ge-
legenheit benutzen, die Wurzeln des Baumes, die ein glück-
licher Zufall entblößt hat, kennen zu lernen? Staat und Recht
ſind nicht über Nacht und auf geheimnißvolle Weiſe zur Welt
gekommen, wir können nicht einen beſtimmten hiſtoriſchen Mo-
ment bezeichnen, wo der Staat anfienge, und vor dem ein recht-
loſer Zuſtand exiſtirt hätte. Wenn Recht und Staat nicht im
Individuum ihren innerlichen Grund hätten, wenn nicht ſchon
jede dauernde Gemeinſchaft von Individuen eine rechts- und
ſtaatsbildende Kraft in ſich trüge: woher wäre denn Recht und
Staat in die Welt gekommen? Können wir alſo dieſe Abſtam-
mung des Rechts und Staats aus der Gemeinſchaft der Indi-
viduen irgendwo noch erkennen: warum unſere Augen verſchlie-
ßen? Und wo wir ſie nicht mehr erkennen können: warum uns
da nicht bewußt werden, wie weit Staat und Recht hier von
jenem nothwendigen Ausgangspunkt ſich bereits entfernt haben?
Ich meine, daß jede Rechtsgeſchichte damit beginnen ſollte, ſich
dieſer Entfernung bewußt zu werden und zu verſuchen, ob ſie
noch die Verbindungslinie zwiſchen Staat und Recht, wie ſie
ihr in der Geſchichte zuerſt entgegentreten, auf der einen Seite
und dem Individuum oder der Gemeinſchaft der Individuen
auf der andern Seite erkennen kann; nicht mit der Idee ans
Werk gehn, daß nur der fertige Staat ſie intereſſiren dürfe,

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[101/0119] Anfangspunkt der Rechtsgeſchichte. §. 9. ſcheiden, den römiſchen Staat und das römiſche Recht als fer- tige Thatſachen entgegenzunehmen und wir brauchten oder rich- tiger wir dürften gar nicht die Frage aufwerfen, wie ſich beide von jenem erſten Keim aus entwickelt hätten. Ließe ſich auf jene Frage nur mit vagen Muthmaßungen antworten, deutete keine Spur den Weg an, den die Geſchichte, um vom Indivi- duum zum Staat zu gelangen zurückgelegt hat, dann wäre die Abweiſung jener Frage durchaus gerechtfertigt. Wenn es ſich aber entgegengeſetzt verhält — und ich glaube, daß dies hinſichtlich des römiſchen Rechts der Fall iſt — warum mit einem ſolchen Lehrſatz der Wißbegierde entgegentreten, warum nicht die Ge- legenheit benutzen, die Wurzeln des Baumes, die ein glück- licher Zufall entblößt hat, kennen zu lernen? Staat und Recht ſind nicht über Nacht und auf geheimnißvolle Weiſe zur Welt gekommen, wir können nicht einen beſtimmten hiſtoriſchen Mo- ment bezeichnen, wo der Staat anfienge, und vor dem ein recht- loſer Zuſtand exiſtirt hätte. Wenn Recht und Staat nicht im Individuum ihren innerlichen Grund hätten, wenn nicht ſchon jede dauernde Gemeinſchaft von Individuen eine rechts- und ſtaatsbildende Kraft in ſich trüge: woher wäre denn Recht und Staat in die Welt gekommen? Können wir alſo dieſe Abſtam- mung des Rechts und Staats aus der Gemeinſchaft der Indi- viduen irgendwo noch erkennen: warum unſere Augen verſchlie- ßen? Und wo wir ſie nicht mehr erkennen können: warum uns da nicht bewußt werden, wie weit Staat und Recht hier von jenem nothwendigen Ausgangspunkt ſich bereits entfernt haben? Ich meine, daß jede Rechtsgeſchichte damit beginnen ſollte, ſich dieſer Entfernung bewußt zu werden und zu verſuchen, ob ſie noch die Verbindungslinie zwiſchen Staat und Recht, wie ſie ihr in der Geſchichte zuerſt entgegentreten, auf der einen Seite und dem Individuum oder der Gemeinſchaft der Individuen auf der andern Seite erkennen kann; nicht mit der Idee ans Werk gehn, daß nur der fertige Staat ſie intereſſiren dürfe,

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/119>, abgerufen am 26.11.2024.