Anatomie und Physiologie eine Obßönität. Eine bei Aristophanes oder bei Juvenal oder Rabelais wirkt gerade so sittlich als manche französische oder wielandische Hand unsittlich, welche wie die be- kannte an der Venus zudeckt .... Nur verschatten Ihnen fast ein wenig die Wolken den Sokrates, diesen liberalern athenischen5 Kato II, das Ideal eines Platons, das nicht einmal Aristoteles angegriffen. Überhaupt wissen wir von Sokrates Jugend so wenig, als von Christus Jugend; -- desto jämmerlicher; -- ich gäbe für diese beiden Jugendgeschichten die römische und die halbe deutsche Kaiserhistorie; denn solche Leute sind nicht Menschen, sondern10 Welten und verkörpern soweit möglich die Ewigkeit. Mein Herz hat indeß den rechten Sokrates nie weder in Platon noch in Xenophon ganz gefunden sondern in beiden widerspänstigen und in kleinen Anekdoten .... Fahren Sie ja -- bei der Kraft Ihres Bundes ältester Literatur mit neuester -- fort, diesen kolossalen15 Satyr aus dem Schutt der Zeit hervorzugraben, wiewol wir nur Glieder, nicht einmal den Torso finden ... Die Glücksgöttin sei Ihnen so günstig als die Muse es ist!
443. An Emanuel.
[Bayreuth, 17. Jan. 1811]20
Guten Morgen, lieber Emanuel! Hier ein Paar Briefe, mit denen wieder herrlich eingebundne Bücher eingelaufen sind, die von mir rezensiert sein wollen. Zuletzt setzt mich dieses Beschenken in Ver- legenheit, da ich so selten dieses Wollen erfüllen kann. -- Schön ists, daß heute schon Donnerstag ist; der Schabbes muß doch endlich25 kommen.
*444. An C. F. Kunz in Bamberg.
Bayreuth d. 20. Jenn. 1811
Ich bin Ihnen lange meinen schriftlichen Dank für den heitern reichen Tag bei Ihnen schuldig geblieben; aber ich wollte mit dem30 Danke zugleich die Antwort auf ein Briefchen geben, worin Sie mir etwas vom Anonymus oder Monsieur gemeldet hätten. Leider kam es nicht. Möge doch die Mutter mit den schönen Seelen-
Anatomie und Phyſiologie eine Obſzönität. Eine bei Ariſtophanes oder bei Juvenal oder Rabelais wirkt gerade ſo ſittlich als manche franzöſiſche oder wielandiſche Hand unſittlich, welche wie die be- kannte an der Venus zudeckt .... Nur verſchatten Ihnen faſt ein wenig die Wolken den Sokrates, dieſen liberalern atheniſchen5 Kato II, das Ideal eines Platons, das nicht einmal Ariſtoteles angegriffen. Überhaupt wiſſen wir von Sokrates Jugend ſo wenig, als von Chriſtus Jugend; — deſto jämmerlicher; — ich gäbe für dieſe beiden Jugendgeſchichten die römiſche und die halbe deutſche Kaiſerhiſtorie; denn ſolche Leute ſind nicht Menſchen, ſondern10 Welten und verkörpern ſoweit möglich die Ewigkeit. Mein Herz hat indeß den rechten Sokrates nie weder in Platon noch in Xenophon ganz gefunden ſondern in beiden widerſpänſtigen und in kleinen Anekdoten .... Fahren Sie ja — bei der Kraft Ihres Bundes älteſter Literatur mit neueſter — fort, dieſen koloſſalen15 Satyr aus dem Schutt der Zeit hervorzugraben, wiewol wir nur Glieder, nicht einmal den Torſo finden ... Die Glücksgöttin ſei Ihnen ſo günſtig als die Muſe es iſt!
443. An Emanuel.
[Bayreuth, 17. Jan. 1811]20
Guten Morgen, lieber Emanuel! Hier ein Paar Briefe, mit denen wieder herrlich eingebundne Bücher eingelaufen ſind, die von mir rezenſiert ſein wollen. Zuletzt ſetzt mich dieſes Beſchenken in Ver- legenheit, da ich ſo ſelten dieſes Wollen erfüllen kann. — Schön iſts, daß heute ſchon Donnerſtag iſt; der Schabbes muß doch endlich25 kommen.
*444. An C. F. Kunz in Bamberg.
Bayreuth d. 20. Jenn. 1811
Ich bin Ihnen lange meinen ſchriftlichen Dank für den heitern reichen Tag bei Ihnen ſchuldig geblieben; aber ich wollte mit dem30 Danke zugleich die Antwort auf ein Briefchen geben, worin Sie mir etwas vom Anonymus oder Monsieur gemeldet hätten. Leider kam es nicht. Möge doch die Mutter mit den ſchönen Seelen-
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Anatomie und Phyſiologie eine Obſzönität. Eine bei Ariſtophanes
oder bei Juvenal oder Rabelais wirkt gerade ſo ſittlich als manche
franzöſiſche oder wielandiſche Hand unſittlich, welche wie die be-
kannte an der Venus zudeckt .... Nur verſchatten Ihnen faſt ein
wenig die Wolken den Sokrates, dieſen liberalern atheniſchen 5
Kato II, das Ideal eines Platons, das nicht einmal Ariſtoteles
angegriffen. Überhaupt wiſſen wir von Sokrates Jugend ſo wenig,
als von Chriſtus Jugend; — deſto jämmerlicher; — ich gäbe für
dieſe beiden Jugendgeſchichten die römiſche und die halbe deutſche
Kaiſerhiſtorie; denn ſolche Leute ſind nicht Menſchen, ſondern 10
Welten und verkörpern ſoweit möglich die Ewigkeit. Mein Herz
hat indeß den rechten Sokrates nie weder in Platon noch in
Xenophon ganz gefunden ſondern in beiden widerſpänſtigen und in
kleinen Anekdoten .... Fahren Sie ja — bei der Kraft Ihres
Bundes älteſter Literatur mit neueſter — fort, dieſen koloſſalen 15
Satyr aus dem Schutt der Zeit hervorzugraben, wiewol wir nur
Glieder, nicht einmal den Torſo finden ... Die Glücksgöttin ſei
Ihnen ſo günſtig als die Muſe es iſt!
443. An Emanuel.
[Bayreuth, 17. Jan. 1811] 20
Guten Morgen, lieber Emanuel! Hier ein Paar Briefe, mit denen
wieder herrlich eingebundne Bücher eingelaufen ſind, die von mir
rezenſiert ſein wollen. Zuletzt ſetzt mich dieſes Beſchenken in Ver-
legenheit, da ich ſo ſelten dieſes Wollen erfüllen kann. — Schön
iſts, daß heute ſchon Donnerſtag iſt; der Schabbes muß doch endlich 25
kommen.
*444. An C. F. Kunz in Bamberg.
Bayreuth d. 20. Jenn. 1811
Ich bin Ihnen lange meinen ſchriftlichen Dank für den heitern
reichen Tag bei Ihnen ſchuldig geblieben; aber ich wollte mit dem 30
Danke zugleich die Antwort auf ein Briefchen geben, worin Sie
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:17:09Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:17:09Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 6. Berlin, 1952, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe06_1962/189>, abgerufen am 30.11.2024.
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