Seit Montags treib' ich hier mein Gast- und Reiseleben; und laufe morgen, wenn mir Gleims Zuhausesein geschrieben wird, nach Halber- stadt, um da diesen Brief auszumachen und ganz spät fortzuschicken.5 Ihr solt alle, des Epistolierens wegen, nicht eher wissen daß ich fortbin als bis ich zurük bin.
Ich lebe hier sehr froh, von den Gaben der Humanität und der botanischen Natur und der Tonkunst umgeben. Reichard hat ein ganzes Töchter-Orchester, das so schön singt als lebt (obwohl nicht so schön10 aussieht, die vor-kleinste ausgenommen, deren Madonnengesicht von 7 Jahren er für mich ernstlich für den 2ten Band des Titans kopieren lässet, damit die Welt sieht, wie eine der liebl[ichsten] Aktrizen meines Titans im 7ten Jahre ausgesehen). Sein Bergthalgarten zertheilt sich in lauter Schönheiten; und er selber in lauter Gefälligkeiten und15 Aufmerksamkeiten; und ich habe so viel Freiheit als jedem andern genug ist, mich ausgenommen. Er erzählt mir, daß in Berlin das alte [83]Unwesen, durch die Soufleurs der alten Regierung wieder angehe. Die unnöthige Furcht der Revoluzion thut gerade so viel Schlimmes als vorher Gutes: ein ganzes Spionen-Departement ist öffentlich20 errichtet auf dem alten Pariser Fus, das unter allen Verkleidungen Hör- und Sehröhre ansezt und den Staat zu einem Schalgewölbe macht. Wer dem Abbe Sieyes nur nachsieht, der wird angegeben; so wie auf eine niedrige Weise Stände und der König unter dem Huldi- gungsschwure blos auf den Franzosen sahen. -- Was ich aus Stapfers25 Briefen über die moralische Atonie der Pariser, besonders der Trauer- spiel-Direktoren höre, macht, daß man diese Stadt, die bekantlich ganz auf einem unterhöhlten Boden steht, in ihr Souterrain hinabwünscht. --
In Halle werd' ich mit vieler Liebe empfangen. Gestern assen wir bei Lafontaine. Er ist ein runder, treuherziger, frohlauniger, menschen-30 und tugendliebender fester heller Man, ohne das Bauch-Vorgebürge und Kin-Kap, worauf ich rechnete. Er wohnt mit seiner kinderlosen Frau auf einem Thurm von Hause. Da er vom König eine Präbende von 600 fl. (denk' ich) bekam und er sich bald gar unabhängig und aus seinem Predigerdienste schreiben wird: so wird dan seine Fruchtbarkeit35 sich mässigen. Dem Faktor der Vossischen Druckerei erlaubt er, seinen Schriften ab- und zuzuthun was er wil und fragt nichts nach weg-
113. An Chriſtian Otto.
Giebichenstein d. 18 Jul. 98 [Mittwoch].
Seit Montags treib’ ich hier mein Gaſt- und Reiſeleben; und laufe morgen, wenn mir Gleims Zuhauſeſein geſchrieben wird, nach Halber- stadt, um da dieſen Brief auszumachen und ganz ſpät fortzuſchicken.5 Ihr ſolt alle, des Epiſtolierens wegen, nicht eher wiſſen daß ich fortbin als bis ich zurük bin.
Ich lebe hier ſehr froh, von den Gaben der Humanität und der botaniſchen Natur und der Tonkunſt umgeben. Reichard hat ein ganzes Töchter-Orcheſter, das ſo ſchön ſingt als lebt (obwohl nicht ſo ſchön10 ausſieht, die vor-kleinſte ausgenommen, deren Madonnengeſicht von 7 Jahren er für mich ernſtlich für den 2ten Band des Titans kopieren läſſet, damit die Welt ſieht, wie eine der liebl[ichſten] Aktrizen meines Titans im 7ten Jahre ausgeſehen). Sein Bergthalgarten zertheilt ſich in lauter Schönheiten; und er ſelber in lauter Gefälligkeiten und15 Aufmerkſamkeiten; und ich habe ſo viel Freiheit als jedem andern genug iſt, mich ausgenommen. Er erzählt mir, daß in Berlin das alte [83]Unweſen, durch die Soufleurs der alten Regierung wieder angehe. Die unnöthige Furcht der Revoluzion thut gerade ſo viel Schlimmes als vorher Gutes: ein ganzes Spionen-Departement iſt öffentlich20 errichtet auf dem alten Pariſer Fus, das unter allen Verkleidungen Hör- und Sehröhre anſezt und den Staat zu einem Schalgewölbe macht. Wer dem Abbé Sieyes nur nachſieht, der wird angegeben; ſo wie auf eine niedrige Weiſe Stände und der König unter dem Huldi- gungsſchwure blos auf den Franzoſen ſahen. — Was ich aus Stapfers25 Briefen über die moraliſche Atonie der Pariſer, beſonders der Trauer- ſpiel-Direktoren höre, macht, daß man dieſe Stadt, die bekantlich ganz auf einem unterhöhlten Boden ſteht, in ihr Souterrain hinabwünſcht. —
In Halle werd’ ich mit vieler Liebe empfangen. Geſtern aſſen wir bei Lafontaine. Er iſt ein runder, treuherziger, frohlauniger, menſchen-30 und tugendliebender feſter heller Man, ohne das Bauch-Vorgebürge und Kin-Kap, worauf ich rechnete. Er wohnt mit ſeiner kinderloſen Frau auf einem Thurm von Hauſe. Da er vom König eine Präbende von 600 fl. (denk’ ich) bekam und er ſich bald gar unabhängig und aus ſeinem Predigerdienſte ſchreiben wird: ſo wird dan ſeine Fruchtbarkeit35 ſich mäſſigen. Dem Faktor der Voſſiſchen Druckerei erlaubt er, ſeinen Schriften ab- und zuzuthun was er wil und fragt nichts nach weg-
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Seit Montags treib’ ich hier mein Gaſt- und Reiſeleben; und laufe
morgen, wenn mir Gleims Zuhauſeſein geſchrieben wird, nach Halber-
stadt, um da dieſen Brief auszumachen und ganz ſpät fortzuſchicken. 5
Ihr ſolt alle, des Epiſtolierens wegen, nicht eher wiſſen daß ich fortbin
als bis ich zurük bin.
Ich lebe hier ſehr froh, von den Gaben der Humanität und der
botaniſchen Natur und der Tonkunſt umgeben. Reichard hat ein ganzes
Töchter-Orcheſter, das ſo ſchön ſingt als lebt (obwohl nicht ſo ſchön 10
ausſieht, die vor-kleinſte ausgenommen, deren Madonnengeſicht von
7 Jahren er für mich ernſtlich für den 2ten Band des Titans kopieren
läſſet, damit die Welt ſieht, wie eine der liebl[ichſten] Aktrizen meines
Titans im 7ten Jahre ausgeſehen). Sein Bergthalgarten zertheilt
ſich in lauter Schönheiten; und er ſelber in lauter Gefälligkeiten und 15
Aufmerkſamkeiten; und ich habe ſo viel Freiheit als jedem andern
genug iſt, mich ausgenommen. Er erzählt mir, daß in Berlin das alte
Unweſen, durch die Soufleurs der alten Regierung wieder angehe.
Die unnöthige Furcht der Revoluzion thut gerade ſo viel Schlimmes
als vorher Gutes: ein ganzes Spionen-Departement iſt öffentlich 20
errichtet auf dem alten Pariſer Fus, das unter allen Verkleidungen
Hör- und Sehröhre anſezt und den Staat zu einem Schalgewölbe
macht. Wer dem Abbé Sieyes nur nachſieht, der wird angegeben; ſo
wie auf eine niedrige Weiſe Stände und der König unter dem Huldi-
gungsſchwure blos auf den Franzoſen ſahen. — Was ich aus Stapfers 25
Briefen über die moraliſche Atonie der Pariſer, beſonders der Trauer-
ſpiel-Direktoren höre, macht, daß man dieſe Stadt, die bekantlich ganz
auf einem unterhöhlten Boden ſteht, in ihr Souterrain hinabwünſcht. —
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In Halle werd’ ich mit vieler Liebe empfangen. Geſtern aſſen wir
bei Lafontaine. Er iſt ein runder, treuherziger, frohlauniger, menſchen- 30
und tugendliebender feſter heller Man, ohne das Bauch-Vorgebürge
und Kin-Kap, worauf ich rechnete. Er wohnt mit ſeiner kinderloſen
Frau auf einem Thurm von Hauſe. Da er vom König eine Präbende
von 600 fl. (denk’ ich) bekam und er ſich bald gar unabhängig und aus
ſeinem Predigerdienſte ſchreiben wird: ſo wird dan ſeine Fruchtbarkeit 35
ſich mäſſigen. Dem Faktor der Voſſiſchen Druckerei erlaubt er, ſeinen
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:05:42Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:05:42Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 3. Berlin, 1959, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe03_1959/84>, abgerufen am 24.11.2024.
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