Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 3. Berlin, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

[136]Kritik gesammelt -- und Fichte wirft sie den Kantianern vor -- woraus
erscheint, daß nach ihr die ganze Natur ein blos im Raum in uns, ge-
fassetes und von den Kategorien figuriertes und ausgezaktes Gebäk sei.
Das = x an sich bleib' uns, nach ihrer Meinung ewig ein x und
Nichts; nur weis ich nicht, mit welchem Grund dieses Unerklärliche5
noch zur Erklärung einer schon erklärten Sache beigezogen wird und
wozu die von uns geschafne Natur noch einen äussern Schöpfer
braucht.

Mich dünkt, die Rüge dieser Zweideutigkeit zwischen Realismus und
Idealismus gehöre heller in Ihr Werk.10

-- Und nun legen Sie, verehrtester Genius, Ihre lossprechende
Hand auf meinen Kopf, der ausser der Kürze der Zeit, die durch Fremde
noch enger ward, noch seine eigne Beschaffenheit für sich hat. Es wurde
mir schwer und zulezt widrig, durch Ihre Blumenbeete und Frucht-
gärten stum zu schleichen und nur hinter denselben oder bei Staubfäden15
laut zu werden, denen nach meiner Meinung im Sexualsystem der
kritischen Klassifikatoren ein Misgrif drohte. --

Die Kürze der Zeit nahm meiner Sprache die Bescheidenheit -- ich
warf alles trocken hin und lies überal das "scheint" weg -- wie meiner
Lektüre die ausgestrichnen Stellen, die ich so gern gelesen hätte.20

Ich hatte heute und gestern keine andern Gedanken als Ihre. Ich
wuste nicht, daß ich schon heute am Freitag mein Summarissimum als
Teufelsadvokat volführen würde.

Verzeihen Sie einer Seele, die Sie so unaussprechlich liebt und
ehrt, die Fehler der Eile -- der Schwäche -- des Sinnes -- der Kentnis25
-- der Kühnheit --; aber nicht des Herzens; denn dieses kan und wird
und sol nie in Fehler gegen seinen geliebtesten Lehrer fallen. Und so
vale et fave!

Richter
159. An Böttiger.
30

Lieber Panhistor und Oligograph, zum Unterschiede der Pangraphen
und Oligohistors! Eben leg' ich Ihre vortrefliche Abhandlung (auch
[137]als Einkleidung) über die alten Schnupftücher weg. Der Adel der
neuen liegt vielleicht auch darin, daß mehr die Augen als die Nase
damit getroknet wird. Für mich ist ein Schnupftuch ein Schleier. --35
Ich wil abends um 6 Uhr zu Md. Ludekus. Können Sie ihr das nicht

[136]Kritik geſammelt — und Fichte wirft ſie den Kantianern vor — woraus
erſcheint, daß nach ihr die ganze Natur ein blos im Raum in uns, ge-
faſſetes und von den Kategorien figuriertes und ausgezaktes Gebäk ſei.
Das = x an ſich bleib’ uns, nach ihrer Meinung ewig ein x und
Nichts; nur weis ich nicht, mit welchem Grund dieſes Unerklärliche5
noch zur Erklärung einer ſchon erklärten Sache beigezogen wird und
wozu die von uns geſchafne Natur noch einen äuſſern Schöpfer
braucht.

Mich dünkt, die Rüge dieſer Zweideutigkeit zwiſchen Realiſmus und
Idealiſmus gehöre heller in Ihr Werk.10

— Und nun legen Sie, verehrteſter Genius, Ihre losſprechende
Hand auf meinen Kopf, der auſſer der Kürze der Zeit, die durch Fremde
noch enger ward, noch ſeine eigne Beſchaffenheit für ſich hat. Es wurde
mir ſchwer und zulezt widrig, durch Ihre Blumenbeete und Frucht-
gärten ſtum zu ſchleichen und nur hinter denſelben oder bei Staubfäden15
laut zu werden, denen nach meiner Meinung im Sexualſyſtem der
kritiſchen Klaſſifikatoren ein Misgrif drohte. —

Die Kürze der Zeit nahm meiner Sprache die Beſcheidenheit — ich
warf alles trocken hin und lies überal das „ſcheint“ weg — wie meiner
Lektüre die ausgeſtrichnen Stellen, die ich ſo gern geleſen hätte.20

Ich hatte heute und geſtern keine andern Gedanken als Ihre. Ich
wuſte nicht, daß ich ſchon heute am Freitag mein Summarissimum als
Teufelsadvokat volführen würde.

Verzeihen Sie einer Seele, die Sie ſo unausſprechlich liebt und
ehrt, die Fehler der Eile — der Schwäche — des Sinnes — der Kentnis25
— der Kühnheit —; aber nicht des Herzens; denn dieſes kan und wird
und ſol nie in Fehler gegen ſeinen geliebteſten Lehrer fallen. Und ſo
vale et fave!

Richter
159. An Böttiger.
30

Lieber Panhiſtor und Oligograph, zum Unterſchiede der Pangraphen
und Oligohiſtors! Eben leg’ ich Ihre vortrefliche Abhandlung (auch
[137]als Einkleidung) über die alten Schnupftücher weg. Der Adel der
neuen liegt vielleicht auch darin, daß mehr die Augen als die Naſe
damit getroknet wird. Für mich iſt ein Schnupftuch ein Schleier. —35
Ich wil abends um 6 Uhr zu Md. Ludekus. Können Sie ihr das nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="letter" n="1">
        <p><pb facs="#f0132" n="122"/><note place="left"><ref target="1922_Bd3_136">[136]</ref></note>Kritik ge&#x017F;ammelt &#x2014; und Fichte wirft &#x017F;ie den Kantianern vor &#x2014; woraus<lb/>
er&#x017F;cheint, daß nach ihr die ganze Natur ein blos im Raum in uns, ge-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;etes und von den Kategorien figuriertes und ausgezaktes Gebäk &#x017F;ei.<lb/>
Das = <hi rendition="#aq">x</hi> an &#x017F;ich bleib&#x2019; uns, nach ihrer Meinung ewig ein <hi rendition="#aq">x</hi> und<lb/>
Nichts; nur weis ich nicht, mit welchem Grund die&#x017F;es Unerklärliche<lb n="5"/>
noch zur Erklärung einer &#x017F;chon erklärten Sache beigezogen wird und<lb/>
wozu die von uns ge&#x017F;chafne Natur noch einen äu&#x017F;&#x017F;ern Schöpfer<lb/>
braucht.</p><lb/>
        <p>Mich dünkt, die Rüge die&#x017F;er Zweideutigkeit zwi&#x017F;chen Reali&#x017F;mus und<lb/>
Ideali&#x017F;mus gehöre heller in Ihr Werk.<lb n="10"/>
</p>
        <p>&#x2014; Und nun legen Sie, verehrte&#x017F;ter Genius, Ihre los&#x017F;prechende<lb/>
Hand auf meinen Kopf, der au&#x017F;&#x017F;er der Kürze der Zeit, die durch Fremde<lb/>
noch enger ward, noch &#x017F;eine eigne Be&#x017F;chaffenheit für &#x017F;ich hat. Es wurde<lb/>
mir &#x017F;chwer und zulezt widrig, durch Ihre Blumenbeete und Frucht-<lb/>
gärten &#x017F;tum zu &#x017F;chleichen und nur hinter den&#x017F;elben oder bei Staubfäden<lb n="15"/> <hi rendition="#g">laut</hi> zu werden, denen nach meiner Meinung im Sexual&#x017F;y&#x017F;tem der<lb/>
kriti&#x017F;chen Kla&#x017F;&#x017F;ifikatoren ein Misgrif drohte. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Die Kürze der Zeit nahm meiner Sprache die Be&#x017F;cheidenheit &#x2014; ich<lb/>
warf alles trocken hin und lies überal das &#x201E;&#x017F;cheint&#x201C; weg &#x2014; wie meiner<lb/>
Lektüre die ausge&#x017F;trichnen Stellen, die ich &#x017F;o gern gele&#x017F;en hätte.<lb n="20"/>
</p>
        <p>Ich hatte heute und ge&#x017F;tern keine andern Gedanken als Ihre. Ich<lb/>
wu&#x017F;te nicht, daß ich &#x017F;chon heute am Freitag mein <hi rendition="#aq">Summarissimum</hi> als<lb/>
Teufelsadvokat volführen würde.</p><lb/>
        <p>Verzeihen Sie einer Seele, die Sie &#x017F;o unaus&#x017F;prechlich liebt und<lb/>
ehrt, die Fehler der Eile &#x2014; der Schwäche &#x2014; des Sinnes &#x2014; der Kentnis<lb n="25"/>
&#x2014; der Kühnheit &#x2014;; aber nicht des Herzens; denn die&#x017F;es kan und wird<lb/>
und &#x017F;ol nie in Fehler gegen &#x017F;einen geliebte&#x017F;ten Lehrer fallen. Und &#x017F;o<lb/><hi rendition="#aq">vale et fave!</hi></p>
        <closer>
          <salute> <hi rendition="#sameLine"> <hi rendition="#right">Richter</hi> </hi> </salute>
        </closer>
      </div><lb/>
      <div type="letter" n="1">
        <head>159. An <hi rendition="#g">Böttiger.</hi></head><lb/>
        <dateline> <hi rendition="#right">[Weimar, Nov. 1798]</hi> </dateline>
        <lb n="30"/>
        <p>Lieber Panhi&#x017F;tor und Oligograph, zum Unter&#x017F;chiede der Pangraphen<lb/>
und Oligohi&#x017F;tors! Eben leg&#x2019; ich Ihre vortrefliche Abhandlung (auch<lb/><note place="left"><ref target="1922_Bd3_137">[137]</ref></note>als Einkleidung) über die alten Schnupftücher weg. Der Adel der<lb/>
neuen liegt vielleicht auch darin, daß mehr die Augen als die Na&#x017F;e<lb/>
damit getroknet wird. Für mich i&#x017F;t ein Schnupftuch ein Schleier. &#x2014;<lb n="35"/>
Ich wil abends um 6 Uhr zu <hi rendition="#aq">Md.</hi> Ludekus. Können Sie ihr das nicht<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0132] Kritik geſammelt — und Fichte wirft ſie den Kantianern vor — woraus erſcheint, daß nach ihr die ganze Natur ein blos im Raum in uns, ge- faſſetes und von den Kategorien figuriertes und ausgezaktes Gebäk ſei. Das = x an ſich bleib’ uns, nach ihrer Meinung ewig ein x und Nichts; nur weis ich nicht, mit welchem Grund dieſes Unerklärliche 5 noch zur Erklärung einer ſchon erklärten Sache beigezogen wird und wozu die von uns geſchafne Natur noch einen äuſſern Schöpfer braucht. [136] Mich dünkt, die Rüge dieſer Zweideutigkeit zwiſchen Realiſmus und Idealiſmus gehöre heller in Ihr Werk. 10 — Und nun legen Sie, verehrteſter Genius, Ihre losſprechende Hand auf meinen Kopf, der auſſer der Kürze der Zeit, die durch Fremde noch enger ward, noch ſeine eigne Beſchaffenheit für ſich hat. Es wurde mir ſchwer und zulezt widrig, durch Ihre Blumenbeete und Frucht- gärten ſtum zu ſchleichen und nur hinter denſelben oder bei Staubfäden 15 laut zu werden, denen nach meiner Meinung im Sexualſyſtem der kritiſchen Klaſſifikatoren ein Misgrif drohte. — Die Kürze der Zeit nahm meiner Sprache die Beſcheidenheit — ich warf alles trocken hin und lies überal das „ſcheint“ weg — wie meiner Lektüre die ausgeſtrichnen Stellen, die ich ſo gern geleſen hätte. 20 Ich hatte heute und geſtern keine andern Gedanken als Ihre. Ich wuſte nicht, daß ich ſchon heute am Freitag mein Summarissimum als Teufelsadvokat volführen würde. Verzeihen Sie einer Seele, die Sie ſo unausſprechlich liebt und ehrt, die Fehler der Eile — der Schwäche — des Sinnes — der Kentnis 25 — der Kühnheit —; aber nicht des Herzens; denn dieſes kan und wird und ſol nie in Fehler gegen ſeinen geliebteſten Lehrer fallen. Und ſo vale et fave! Richter 159. An Böttiger. [Weimar, Nov. 1798] 30 Lieber Panhiſtor und Oligograph, zum Unterſchiede der Pangraphen und Oligohiſtors! Eben leg’ ich Ihre vortrefliche Abhandlung (auch als Einkleidung) über die alten Schnupftücher weg. Der Adel der neuen liegt vielleicht auch darin, daß mehr die Augen als die Naſe damit getroknet wird. Für mich iſt ein Schnupftuch ein Schleier. — 35 Ich wil abends um 6 Uhr zu Md. Ludekus. Können Sie ihr das nicht [137]

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:05:42Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:05:42Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe03_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe03_1959/132
Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 3. Berlin, 1959, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe03_1959/132>, abgerufen am 24.11.2024.