Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958.entkräftet durch Zeremonien *) die Tugend. Man kan nach dem Münz- *) Unter Zeremonien mein' ich das ganze Betragen gegen Gott und andere, das mir nicht mein Gewissen, sondern eine Offenbarung diktieret und das daher alle30 Verschiedenheiten der Offenbarungen theilt. Unter Tugend aber mein' ich den Ge- horsam gegen das erhabene Gesez, das von einer Zone zur andern in jedem Busen, im braunrothen und im negerschwarzen mit gestirnten Zügen brent. **) Dürftig ists doch, wenn der Masoreth aufsummiert, wie oft z. B. vor-
kömmt, nämlich 42377 mal, oder daß r im 3 B. Mos. XI, 42. im Wort gkhovn der35 mittelste Buchstab im Pentateuch ist oder daß blos im Jerem. XXI, 7. 42 Wörter vorkommen. entkräftet durch Zeremonien *) die Tugend. Man kan nach dem Münz- *) Unter Zeremonien mein’ ich das ganze Betragen gegen Gott und andere, das mir nicht mein Gewiſſen, ſondern eine Offenbarung diktieret und das daher alle30 Verſchiedenheiten der Offenbarungen theilt. Unter Tugend aber mein’ ich den Ge- horſam gegen das erhabene Geſez, das von einer Zone zur andern in jedem Buſen, im braunrothen und im negerſchwarzen mit geſtirnten Zügen brent. **) Dürftig iſts doch, wenn der Maſoreth aufſummiert, wie oft z. B. א vor-
kömmt, nämlich 42377 mal, oder daß ר im 3 B. Moſ. XI, 42. im Wort גחֹון der35 mittelſte Buchſtab im Pentateuch iſt oder daß blos im Jerem. XXI, 7. 42 Wörter vorkommen. <TEI> <text> <body> <div type="letter" n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0086" n="77"/> entkräftet durch Zeremonien <note place="foot" n="*)">Unter Zeremonien mein’ ich das ganze Betragen gegen Gott und andere, das<lb/> mir nicht mein Gewiſſen, ſondern eine Offenbarung diktieret und das daher alle<lb n="30"/> Verſchiedenheiten der Offenbarungen theilt. Unter Tugend aber mein’ ich den Ge-<lb/> horſam gegen das erhabene Geſez, das von einer Zone zur andern in jedem Buſen,<lb/> im braunrothen und im negerſchwarzen mit geſtirnten Zügen brent.</note> die Tugend. Man kan nach dem Münz-<lb/> fus aller Zeremonien leben, ohne eine einzige Neigung — was gerade<lb/> ſchwer iſt — unter den Prägſtok der Moral zu bringen. Es iſt dem<lb/> eiteln Menſchen leichter, die Lumpen der Mönche anzulegen als ein<lb/> ſimples Kleid. Man ſolte denken, wenn man lieſet, daß ſo viele Brami-<lb n="5"/> nen 50 Jahre lange aus Religion in die Sonne oder auf die Naſe ſehen,<lb/> auf Einem Beine ſtehen, Schlaf entrathen und die höchſten Martern an<lb/> ſich fortſezen — oder daß ſo viele unſerer Mönche und Heiligen ſich todt<lb/> geiſeln, todt beten, todt hungern, — — man ſolte denken, ſag’ ich, ſolche<lb/> Aufopferungen müſten die kleinern, die die Tugend fodert, vorausſezen<lb n="10"/> und es müſte eben ſo viele Tugendhafte als Heilige und Märtyrer<lb/> geben .... Und es iſt doch nicht ſo: die Urſache iſt, alle jene Büſſungen,<lb/> jene Zeremonien vertragen ſich leicht mit der gröſten Wildnis des<lb/> Herzens und es iſt viel leichter, die ganze Thora des Talmuds als ein<lb/> einziges Reglement aus der Thora des Gewiſſens zu befolgen. Dazu<lb n="15"/> macht der talmudiſche Sachſenſpiegel den Menſchen <hi rendition="#g">kleinlich</hi> und eng:<lb/> die edle Seele ſteigt über <hi rendition="#g">religiöſe</hi> Zeremonien ſo gut auf als über<lb/><hi rendition="#g">bürgerliche</hi> und dringt in den reinen groſſen Himmel. Noch in der<lb/> andern Welt werden wir auf unſere Tugenden, Aufopferungen und<lb/> Thränen in dieſer ohne Verachtung niederblicken; aber vergängliche<lb n="20"/> Dinge, ſolche wie Enthaltung von Todten-Berühren, wo eben ſo gut<lb/> das Gegentheil geboten ſein könte, müſſen uns dort winzig erſcheinen wie<lb/> die warme Erdenkruſte des Körpers, an den ſie gebunden ſind. Ueber-<lb/> haupt hängt Ihrer ſonſt ſcharfſinnigen Nazion — deren Phyſiognomie<lb/> durchgängig die ſcharfe mit vordringenden feſten Geſichttheilen<note place="right"><ref target="1922_Bd2_71">[71]</ref></note><lb n="25"/> ſchneidende des Scharfſins iſt (ich habe noch an keinem Juden die wie<lb/> eine Wanze zerdrükte Kalmükennaſe bemerkt) — etwas mikrologiſches<lb/> an, was ich gern zum <hi rendition="#g">Sohne</hi> des Talmuds und der Maſora <note place="foot" n="**)">Dürftig iſts doch, wenn der Maſoreth aufſummiert, wie oft z. B. א vor-<lb/> kömmt, nämlich 42377 mal, oder daß <hi rendition="#rtl">ר</hi> im 3 B. Moſ. <hi rendition="#aq">XI,</hi> 42. im Wort <hi rendition="#rtl">גחֹון</hi> der<lb n="35"/> mittelſte Buchſtab im Pentateuch iſt oder daß blos im Jerem. <hi rendition="#aq">XXI,</hi> 7. 42 Wörter<lb/> vorkommen.</note> machen<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [77/0086]
entkräftet durch Zeremonien *) die Tugend. Man kan nach dem Münz-
fus aller Zeremonien leben, ohne eine einzige Neigung — was gerade
ſchwer iſt — unter den Prägſtok der Moral zu bringen. Es iſt dem
eiteln Menſchen leichter, die Lumpen der Mönche anzulegen als ein
ſimples Kleid. Man ſolte denken, wenn man lieſet, daß ſo viele Brami- 5
nen 50 Jahre lange aus Religion in die Sonne oder auf die Naſe ſehen,
auf Einem Beine ſtehen, Schlaf entrathen und die höchſten Martern an
ſich fortſezen — oder daß ſo viele unſerer Mönche und Heiligen ſich todt
geiſeln, todt beten, todt hungern, — — man ſolte denken, ſag’ ich, ſolche
Aufopferungen müſten die kleinern, die die Tugend fodert, vorausſezen 10
und es müſte eben ſo viele Tugendhafte als Heilige und Märtyrer
geben .... Und es iſt doch nicht ſo: die Urſache iſt, alle jene Büſſungen,
jene Zeremonien vertragen ſich leicht mit der gröſten Wildnis des
Herzens und es iſt viel leichter, die ganze Thora des Talmuds als ein
einziges Reglement aus der Thora des Gewiſſens zu befolgen. Dazu 15
macht der talmudiſche Sachſenſpiegel den Menſchen kleinlich und eng:
die edle Seele ſteigt über religiöſe Zeremonien ſo gut auf als über
bürgerliche und dringt in den reinen groſſen Himmel. Noch in der
andern Welt werden wir auf unſere Tugenden, Aufopferungen und
Thränen in dieſer ohne Verachtung niederblicken; aber vergängliche 20
Dinge, ſolche wie Enthaltung von Todten-Berühren, wo eben ſo gut
das Gegentheil geboten ſein könte, müſſen uns dort winzig erſcheinen wie
die warme Erdenkruſte des Körpers, an den ſie gebunden ſind. Ueber-
haupt hängt Ihrer ſonſt ſcharfſinnigen Nazion — deren Phyſiognomie
durchgängig die ſcharfe mit vordringenden feſten Geſichttheilen 25
ſchneidende des Scharfſins iſt (ich habe noch an keinem Juden die wie
eine Wanze zerdrükte Kalmükennaſe bemerkt) — etwas mikrologiſches
an, was ich gern zum Sohne des Talmuds und der Maſora **) machen
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*) Unter Zeremonien mein’ ich das ganze Betragen gegen Gott und andere, das
mir nicht mein Gewiſſen, ſondern eine Offenbarung diktieret und das daher alle 30
Verſchiedenheiten der Offenbarungen theilt. Unter Tugend aber mein’ ich den Ge-
horſam gegen das erhabene Geſez, das von einer Zone zur andern in jedem Buſen,
im braunrothen und im negerſchwarzen mit geſtirnten Zügen brent.
**) Dürftig iſts doch, wenn der Maſoreth aufſummiert, wie oft z. B. א vor-
kömmt, nämlich 42377 mal, oder daß ר im 3 B. Moſ. XI, 42. im Wort גחֹון der 35
mittelſte Buchſtab im Pentateuch iſt oder daß blos im Jerem. XXI, 7. 42 Wörter
vorkommen.
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Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen). Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
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