Endlich, gnädige Frau, hab' ich die Himmelsthore aufgedrükt und stehe mitten in Weimar. -- Ich bin noch nicht aus der Reisekruste heraus, so nehme ich schon die Feder zur bittenden Frage, welche5 einsame Stunde -- denn zwischen dem ersten Sehen solte nie das dritte Paar Augen stehen -- Sie mir vergönnen. ... daß ich vor zitternder Freude so unordentlich rede als schreibe. Sie können zu meiner Himmelfarth zu Ihnen jede Minute, sogar die heutige, bestimmen.10
337. An Christian Otto.
Weimar d. 12 Jun. 1796 Sontags um 7 Uhr Morgens.
Lieber Bruder,
Gott sah gestern doch einen überglüklichen Sterblichen auf der15 Erde und der war ich -- ach ich war es so sehr, daß ich wieder an die Nemesis denken muste, und daß mich Herder mit dem deus averruncus tröstete. -- Ich kan mit meinem Schreiben nicht so lange warten, bis [ich] dir einen Brief schicke: ich wil nur etwas sagen. Gestern gieng ich um elf Uhr -- weil ihr Einladungsbillet mich zweimal verfehlte -- zur20 Ostheim (es ist die Schwester der Bayreutherin und ich glaube, fast meine auch) Ich hatte mir im Billet eine einsame Minute zur ersten ausbedungen, ein coeur-a-coeur tete-a-tete. Sie hat zwei grosse Dinge, grosse Augen wie ich noch keine sah, und eine grosse Seele. Sie spricht gerade so wie Herder in den Briefen der Humanität25 schreibt. Sie ist stark, vol, auch das Gesicht -- ich wil dir sie schon schildern. 3/4 der Zeit brachte sie mit Lachen hin -- dessen Hälfte aber nur Nervenschwäche ist -- und 1/4 mit Ernst, wobei sie die grossen fast ganz zugesunknen Augenlieder himlisch in die Höhe hebt, wie wenn [205]Wolken den Mond wechselsweise verhüllen und entblössen. (Ich30 scheere mich um keine Richtigkeit des Ausdruks aus Mangel der Zeit, ich wil dir blos viel schreiben) "Sie sind ein sonderbarer Mensch" das sagte sie mir dreissigmal. Ach hier sind Weiber! Auch habe ich sie alle zum Freunde, der ganze Hof bis zum Herzog lieset mich. -- Ich as aus Ursachen nicht bei ihr; sie schrieb meine Ankunft dem Knebel (Kammer-35
*336. An Charlotte von Kalb in Weimar.
[Konzept]Weimar d. 10 Jun. 1796 [Freitag].
Endlich, gnädige Frau, hab’ ich die Himmelsthore aufgedrükt und ſtehe mitten in Weimar. — Ich bin noch nicht aus der Reiſekruſte heraus, ſo nehme ich ſchon die Feder zur bittenden Frage, welche5 einſame Stunde — denn zwiſchen dem erſten Sehen ſolte nie das dritte Paar Augen ſtehen — Sie mir vergönnen. ... daß ich vor zitternder Freude ſo unordentlich rede als ſchreibe. Sie können zu meiner Himmelfarth zu Ihnen jede Minute, ſogar die heutige, beſtimmen.10
337. An Chriſtian Otto.
Weimar d. 12 Jun. 1796 Sontags um 7 Uhr Morgens.
Lieber Bruder,
Gott ſah geſtern doch einen überglüklichen Sterblichen auf der15 Erde und der war ich — ach ich war es ſo ſehr, daß ich wieder an die Nemeſis denken muſte, und daß mich Herder mit dem deus averruncus tröſtete. — Ich kan mit meinem Schreiben nicht ſo lange warten, bis [ich] dir einen Brief ſchicke: ich wil nur etwas ſagen. Geſtern gieng ich um elf Uhr — weil ihr Einladungsbillet mich zweimal verfehlte — zur20 Oſtheim (es iſt die Schweſter der Bayreutherin und ich glaube, faſt meine auch) Ich hatte mir im Billet eine einſame Minute zur erſten ausbedungen, ein coeur-à-coeur 〈tête-à-tête〉. Sie hat zwei groſſe Dinge, groſſe Augen wie ich noch keine ſah, und eine groſſe Seele. Sie ſpricht gerade ſo wie Herder in den Briefen der Humanität25 ſchreibt. Sie iſt ſtark, vol, auch das Geſicht — ich wil dir ſie ſchon ſchildern. ¾ der Zeit brachte ſie mit Lachen hin — deſſen Hälfte aber nur Nervenſchwäche iſt — und ¼ mit Ernſt, wobei ſie die groſſen faſt ganz zugeſunknen Augenlieder himliſch in die Höhe hebt, wie wenn [205]Wolken den Mond wechſelsweiſe verhüllen und entblöſſen. (Ich30 ſcheere mich um keine Richtigkeit des Ausdruks aus Mangel der Zeit, ich wil dir blos viel ſchreiben) „Sie ſind ein ſonderbarer Menſch“ das ſagte ſie mir dreiſſigmal. Ach hier ſind Weiber! Auch habe ich ſie alle zum Freunde, der ganze Hof bis zum Herzog lieſet mich. — Ich as aus Urſachen nicht bei ihr; ſie ſchrieb meine Ankunft dem Knebel (Kammer-35
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*336. An Charlotte von Kalb in Weimar.
Weimar d. 10 Jun. 1796 [Freitag].
Endlich, gnädige Frau, hab’ ich die Himmelsthore aufgedrükt und
ſtehe mitten in Weimar. — Ich bin noch nicht aus der Reiſekruſte
heraus, ſo nehme ich ſchon die Feder zur bittenden Frage, welche 5
einſame Stunde — denn zwiſchen dem erſten Sehen ſolte nie das
dritte Paar Augen ſtehen — Sie mir vergönnen. ... daß ich vor
zitternder Freude ſo unordentlich rede als ſchreibe. Sie können zu
meiner Himmelfarth zu Ihnen jede Minute, ſogar die heutige,
beſtimmen. 10
337. An Chriſtian Otto.
Weimar d. 12 Jun. 1796
Sontags um 7 Uhr Morgens.
Lieber Bruder,
Gott ſah geſtern doch einen überglüklichen Sterblichen auf der 15
Erde und der war ich — ach ich war es ſo ſehr, daß ich wieder an die
Nemeſis denken muſte, und daß mich Herder mit dem deus averruncus
tröſtete. — Ich kan mit meinem Schreiben nicht ſo lange warten, bis
[ich] dir einen Brief ſchicke: ich wil nur etwas ſagen. Geſtern gieng ich
um elf Uhr — weil ihr Einladungsbillet mich zweimal verfehlte — zur 20
Oſtheim (es iſt die Schweſter der Bayreutherin und ich glaube, faſt
meine auch) Ich hatte mir im Billet eine einſame Minute zur
erſten ausbedungen, ein coeur-à-coeur 〈tête-à-tête〉. Sie hat zwei
groſſe Dinge, groſſe Augen wie ich noch keine ſah, und eine groſſe
Seele. Sie ſpricht gerade ſo wie Herder in den Briefen der Humanität 25
ſchreibt. Sie iſt ſtark, vol, auch das Geſicht — ich wil dir ſie ſchon
ſchildern. ¾ der Zeit brachte ſie mit Lachen hin — deſſen Hälfte aber
nur Nervenſchwäche iſt — und ¼ mit Ernſt, wobei ſie die groſſen
faſt ganz zugeſunknen Augenlieder himliſch in die Höhe hebt, wie wenn
Wolken den Mond wechſelsweiſe verhüllen und entblöſſen. (Ich 30
ſcheere mich um keine Richtigkeit des Ausdruks aus Mangel der Zeit,
ich wil dir blos viel ſchreiben) „Sie ſind ein ſonderbarer Menſch“ das
ſagte ſie mir dreiſſigmal. Ach hier ſind Weiber! Auch habe ich ſie alle
zum Freunde, der ganze Hof bis zum Herzog lieſet mich. — Ich as aus
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/219>, abgerufen am 30.07.2024.
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