stehen mus. So viel ist wahr, die Menschen sind Gaukler, die mit dem Kopf auf d[er] Erde auftretend so in unbequemer Stellung den be- rauschenden Nektartrank der höhern Phantasie hinauf trinken. Mein Brief wird mit andern Schneeflocken im neuen Jahr vor Sie flattern. Er hat mit ihnen nur die Vergänglichkeit, nicht die Kälte gemein.5
212. An Matzdorff in Berlin.
[Kopie][Hof, 31. Dez. 1795]
Sie haben mir nicht blos eine schimmernde Stunde aus der Kindheit wiedergegeben, wo der geschmükte Baum ein Lusthain und der bedekte Tisch ein Lustlager ist, sondern auch das schöne dankbare Gefühl der10 Freude über den Werth eines fremden Herzens. Aber warum ersezten [135]Sie nicht mit Ihrem blossen Bild die 2 andern Geschenke? Eines war genug, um mich auf jene süsse Weise zu berauschen, worin man es dem Schiksal abbittet, daß man trüb gewesen. -- in einer nas kalten Nebel- wolke -- denn bei mir ist Trübsin wie bei Abergläubigen schlimme15 Träume gerade die Ahndung meines Glüks: die helsten Tage des Menschen bedeuten trübe Nächte und diese jene. Wie zög' eine freund- liche Hand den Nebel weg, der vor meiner Freude [?] und meines Freundes Bild lag. Ach meine ganze Umarmung besteht nur in einem Brief. Sie haben eine schöne Stunde mitgeschikt. Ihre freundschaft-20 liche Seele steht so unverhült vor mir und ich habe sie schon so oft sprechen hören, daß sie diese Pantomime gar nicht nöthig hatte. Wenn ich die kleinste Schleusse aufziehe, so schiesset soviel Wasser zu, daß alzeit mehr Räder in Gang kommen und also mehr gemal[en] wird als [ich] wolte -- Das körperliche Uhrgehäuse zerspringt, -- so viel daß ich sterbe,25 ohne mein halbes Ich aus- oder abgeschrieben zu haben -- Der lezte Tag hat in seine Wellen, eh' er gar hinab sinkt, Ihr Bild [geworfen?] und ich werfe meine Wünsche wie Blumen in unsre hinströmenden Stunden. Mir ist als reicht' ich Ihnen neben der Kluft, die die 2 nahen Jahre absondert, die Hand vom alten hinüber ins neue und sagte: "so30 "vereinigt wollen wir beisammen bleiben mitten in den Wogen einer "lauten aber kurzen Zeit -- Sie wünschen mir nichts und ich Ihnen "nichts -- denn unser Geschik liegt in unsrer Brust und die Ruhe "kömt nicht von aussen hinein sondern von innen heraus und dem "elenden Wechsel zwischen fliehendem Schmerz und fliehender Freude35 "entzieht uns nur der innere Thron, der uns erhebt und uns die 2te
ſtehen mus. So viel iſt wahr, die Menſchen ſind Gaukler, die mit dem Kopf auf d[er] Erde auftretend ſo in unbequemer Stellung den be- rauſchenden Nektartrank der höhern Phantaſie hinauf trinken. Mein Brief wird mit andern Schneeflocken im neuen Jahr vor Sie flattern. Er hat mit ihnen nur die Vergänglichkeit, nicht die Kälte gemein.5
212. An Matzdorff in Berlin.
[Kopie][Hof, 31. Dez. 1795]
Sie haben mir nicht blos eine ſchimmernde Stunde aus der Kindheit wiedergegeben, wo der geſchmükte Baum ein Luſthain und der bedekte Tiſch ein Luſtlager iſt, ſondern auch das ſchöne dankbare Gefühl der10 Freude über den Werth eines fremden Herzens. Aber warum erſezten [135]Sie nicht mit Ihrem bloſſen Bild die 2 andern Geſchenke? Eines war genug, um mich auf jene ſüſſe Weiſe zu berauſchen, worin man es dem Schikſal abbittet, daß man trüb geweſen. — in einer nas kalten Nebel- wolke — denn bei mir iſt Trübſin wie bei Abergläubigen ſchlimme15 Träume gerade die Ahndung meines Glüks: die helſten Tage des Menſchen bedeuten trübe Nächte und dieſe jene. Wie zög’ eine freund- liche Hand den Nebel weg, der vor meiner Freude [?] und meines Freundes Bild lag. Ach meine ganze Umarmung beſteht nur in einem Brief. Sie haben eine ſchöne Stunde mitgeſchikt. Ihre freundſchaft-20 liche Seele ſteht ſo unverhült vor mir und ich habe ſie ſchon ſo oft ſprechen hören, daß ſie dieſe Pantomime gar nicht nöthig hatte. Wenn ich die kleinſte Schleuſſe aufziehe, ſo ſchieſſet ſoviel Waſſer zu, daß alzeit mehr Räder in Gang kommen und alſo mehr gemal[en] wird als [ich] wolte — Das körperliche Uhrgehäuſe zerſpringt, — ſo viel daß ich ſterbe,25 ohne mein halbes Ich aus- oder abgeſchrieben zu haben — Der lezte Tag hat in ſeine Wellen, eh’ er gar hinab ſinkt, Ihr Bild [geworfen?] und ich werfe meine Wünſche wie Blumen in unſre hinſtrömenden Stunden. Mir iſt als reicht’ ich Ihnen neben der Kluft, die die 2 nahen Jahre abſondert, die Hand vom alten hinüber ins neue und ſagte: „ſo30 „vereinigt wollen wir beiſammen bleiben mitten in den Wogen einer „lauten aber kurzen Zeit — Sie wünſchen mir nichts und ich Ihnen „nichts — denn unſer Geſchik liegt in unſrer Bruſt und die Ruhe „kömt nicht von auſſen hinein ſondern von innen heraus und dem „elenden Wechſel zwiſchen fliehendem Schmerz und fliehender Freude35 „entzieht uns nur der innere Thron, der uns erhebt und uns die 2te
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ſtehen mus. So viel iſt wahr, die Menſchen ſind Gaukler, die mit dem
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rauſchenden Nektartrank der höhern Phantaſie hinauf trinken. Mein
Brief wird mit andern Schneeflocken im neuen Jahr vor Sie flattern.
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212. An Matzdorff in Berlin.
[Hof, 31. Dez. 1795]
Sie haben mir nicht blos eine ſchimmernde Stunde aus der Kindheit
wiedergegeben, wo der geſchmükte Baum ein Luſthain und der bedekte
Tiſch ein Luſtlager iſt, ſondern auch das ſchöne dankbare Gefühl der 10
Freude über den Werth eines fremden Herzens. Aber warum erſezten
Sie nicht mit Ihrem bloſſen Bild die 2 andern Geſchenke? Eines war
genug, um mich auf jene ſüſſe Weiſe zu berauſchen, worin man es dem
Schikſal abbittet, daß man trüb geweſen. — in einer nas kalten Nebel-
wolke — denn bei mir iſt Trübſin wie bei Abergläubigen ſchlimme 15
Träume gerade die Ahndung meines Glüks: die helſten Tage des
Menſchen bedeuten trübe Nächte und dieſe jene. Wie zög’ eine freund-
liche Hand den Nebel weg, der vor meiner Freude [?] und meines
Freundes Bild lag. Ach meine ganze Umarmung beſteht nur in einem
Brief. Sie haben eine ſchöne Stunde mitgeſchikt. Ihre freundſchaft- 20
liche Seele ſteht ſo unverhült vor mir und ich habe ſie ſchon ſo oft
ſprechen hören, daß ſie dieſe Pantomime gar nicht nöthig hatte. Wenn
ich die kleinſte Schleuſſe aufziehe, ſo ſchieſſet ſoviel Waſſer zu, daß alzeit
mehr Räder in Gang kommen und alſo mehr gemal[en] wird als [ich]
wolte — Das körperliche Uhrgehäuſe zerſpringt, — ſo viel daß ich ſterbe, 25
ohne mein halbes Ich aus- oder abgeſchrieben zu haben — Der lezte
Tag hat in ſeine Wellen, eh’ er gar hinab ſinkt, Ihr Bild [geworfen?]
und ich werfe meine Wünſche wie Blumen in unſre hinſtrömenden
Stunden. Mir iſt als reicht’ ich Ihnen neben der Kluft, die die 2 nahen
Jahre abſondert, die Hand vom alten hinüber ins neue und ſagte: „ſo 30
„vereinigt wollen wir beiſammen bleiben mitten in den Wogen einer
„lauten aber kurzen Zeit — Sie wünſchen mir nichts und ich Ihnen
„nichts — denn unſer Geſchik liegt in unſrer Bruſt und die Ruhe
„kömt nicht von auſſen hinein ſondern von innen heraus und dem
„elenden Wechſel zwiſchen fliehendem Schmerz und fliehender Freude 35
„entzieht uns nur der innere Thron, der uns erhebt und uns die 2te
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/149>, abgerufen am 22.11.2024.
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