Die lezte Seite deines Briefs war für mich rürend und wäre es noch mer gewesen, wenn du nicht durch die nassen Augen, die alles ver- grössern, auch mich vergrössert erblikt hättest. Wie gut ist dein Aner- bieten, das du mir schon einmal mündlich getan! Es verdient einen Dank one die Schamröte der gefülten Verbindlichkeit! Aber werd' ich5 iemals bei dir immer leben können? In dem Fal nicht, wenn ich un- glüklich bin; dan würd' ich dich oft sehen, aber nicht bei dir leben. Wenn mein Misgeschik, das mir vielleicht iezt unsichtbar ist, weil es unter meinen Füssen an der verderbenden Mine gräbt, meine onehin kleine Begierde, gegen dasselbe zu kämpfen, ermüdet hätte; wenn alle10 Anstrengungen meiner geistigen Kräfte mir das Brod, das sie nicht für die Zukunft säen konten, für die Gegenwart zu reichen aufhörten; wenn die Erschöpfung der Kräfte mir die einzigen Vergnügungen un- möglich machte, die das Glük selbst nicht hat; wenn ich arm, dum, trostlos und verzweifelnd wäre -- dan solte ich zu dir kommen und dich15 für deine Woltaten mit dem schlechten Überrest eines Elenden belonen? Nein! dan würd' ich keinen andern Freund suchen als den Tod; und wenn dieser kalt umarmende Freund mich glüklich gemacht hätte, so würde er mir auch den Freund zufüren, mit dem ich in der Jugend glüklich war, mit dem ich es in der ewigen Jugend sein werde. -- Was20 ich tue, wenn ich in dieser Welt glüklich bin, errate du; denn ich mag es nicht sagen, um meine schwermütige Laune nicht zu unterbrechen, der ich auf dem iezigen abendlichen Spaziergange weiter nachhängen wil.
[112]Den 7. August.
Die Post wil abgehen, und der halbe Bogen ist zu Ende; ich kan dir25 daher nichts weiter melden als den Tag meiner Abreise von hier, näm- lich den 14. August. Leb wol. Das Doppelmaiersche Buch werd' ich mitbringen.
R.
57. An Pfarrer Vogel in Rehau.30
P. P. Hochzuver[er]ender Herr Pfarrer,
Ungeachtet eine Zeit von etlichen Tagen mich von Ihnen um 17 Meilen weiter entfernen wird, so brauch' ich doch in diesem Briefe keine Abschiedspredigt zu halten oder zu schreiben. 17 Meilen machen35
Die lezte Seite deines Briefs war für mich rürend und wäre es noch mer geweſen, wenn du nicht durch die naſſen Augen, die alles ver- gröſſern, auch mich vergröſſert erblikt hätteſt. Wie gut iſt dein Aner- bieten, das du mir ſchon einmal mündlich getan! Es verdient einen Dank one die Schamröte der gefülten Verbindlichkeit! Aber werd’ ich5 iemals bei dir immer leben können? In dem Fal nicht, wenn ich un- glüklich bin; dan würd’ ich dich oft ſehen, aber nicht bei dir leben. Wenn mein Misgeſchik, das mir vielleicht iezt unſichtbar iſt, weil es unter meinen Füſſen an der verderbenden Mine gräbt, meine onehin kleine Begierde, gegen daſſelbe zu kämpfen, ermüdet hätte; wenn alle10 Anſtrengungen meiner geiſtigen Kräfte mir das Brod, das ſie nicht für die Zukunft ſäen konten, für die Gegenwart zu reichen aufhörten; wenn die Erſchöpfung der Kräfte mir die einzigen Vergnügungen un- möglich machte, die das Glük ſelbſt nicht hat; wenn ich arm, dum, troſtlos und verzweifelnd wäre — dan ſolte ich zu dir kommen und dich15 für deine Woltaten mit dem ſchlechten Überreſt eines Elenden belonen? Nein! dan würd’ ich keinen andern Freund ſuchen als den Tod; und wenn dieſer kalt umarmende Freund mich glüklich gemacht hätte, ſo würde er mir auch den Freund zufüren, mit dem ich in der Jugend glüklich war, mit dem ich es in der ewigen Jugend ſein werde. — Was20 ich tue, wenn ich in dieſer Welt glüklich bin, errate du; denn ich mag es nicht ſagen, um meine ſchwermütige Laune nicht zu unterbrechen, der ich auf dem iezigen abendlichen Spaziergange weiter nachhängen wil.
[112]Den 7. Auguſt.
Die Poſt wil abgehen, und der halbe Bogen iſt zu Ende; ich kan dir25 daher nichts weiter melden als den Tag meiner Abreiſe von hier, näm- lich den 14. Auguſt. Leb wol. Das Doppelmaierſche Buch werd’ ich mitbringen.
R.
57. An Pfarrer Vogel in Rehau.30
P. P. Hochzuver[er]ender Herr Pfarrer,
Ungeachtet eine Zeit von etlichen Tagen mich von Ihnen um 17 Meilen weiter entfernen wird, ſo brauch’ ich doch in dieſem Briefe keine Abſchiedspredigt zu halten oder zu ſchreiben. 17 Meilen machen35
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Die lezte Seite deines Briefs war für mich rürend und wäre es
noch mer geweſen, wenn du nicht durch die naſſen Augen, die alles ver-
gröſſern, auch mich vergröſſert erblikt hätteſt. Wie gut iſt dein Aner-
bieten, das du mir ſchon einmal mündlich getan! Es verdient einen
Dank one die Schamröte der gefülten Verbindlichkeit! Aber werd’ ich 5
iemals bei dir immer leben können? In dem Fal nicht, wenn ich un-
glüklich bin; dan würd’ ich dich oft ſehen, aber nicht bei dir leben.
Wenn mein Misgeſchik, das mir vielleicht iezt unſichtbar iſt, weil es
unter meinen Füſſen an der verderbenden Mine gräbt, meine onehin
kleine Begierde, gegen daſſelbe zu kämpfen, ermüdet hätte; wenn alle 10
Anſtrengungen meiner geiſtigen Kräfte mir das Brod, das ſie nicht
für die Zukunft ſäen konten, für die Gegenwart zu reichen aufhörten;
wenn die Erſchöpfung der Kräfte mir die einzigen Vergnügungen un-
möglich machte, die das Glük ſelbſt nicht hat; wenn ich arm, dum,
troſtlos und verzweifelnd wäre — dan ſolte ich zu dir kommen und dich 15
für deine Woltaten mit dem ſchlechten Überreſt eines Elenden belonen?
Nein! dan würd’ ich keinen andern Freund ſuchen als den Tod; und
wenn dieſer kalt umarmende Freund mich glüklich gemacht hätte, ſo
würde er mir auch den Freund zufüren, mit dem ich in der Jugend
glüklich war, mit dem ich es in der ewigen Jugend ſein werde. — Was 20
ich tue, wenn ich in dieſer Welt glüklich bin, errate du; denn ich mag es
nicht ſagen, um meine ſchwermütige Laune nicht zu unterbrechen, der
ich auf dem iezigen abendlichen Spaziergange weiter nachhängen wil.
Den 7. Auguſt.
Die Poſt wil abgehen, und der halbe Bogen iſt zu Ende; ich kan dir 25
daher nichts weiter melden als den Tag meiner Abreiſe von hier, näm-
lich den 14. Auguſt. Leb wol. Das Doppelmaierſche Buch werd’ ich
mitbringen.
R.
57. An Pfarrer Vogel in Rehau. 30
P. P.
Hochzuver[er]ender Herr Pfarrer,
Ungeachtet eine Zeit von etlichen Tagen mich von Ihnen um
17 Meilen weiter entfernen wird, ſo brauch’ ich doch in dieſem Briefe
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/127>, abgerufen am 24.11.2024.
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