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Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810.

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Man schilt den Deutschen gemeinen Mann
einen Barbaren, weil er Nacktheiten bildender
Kunst schändet. Aber Nacktheit ist bei uns wi¬
der Glauben, Pflicht und Volksthum; selbst der
Bettler deckt seine Scham noch mit Lumpeu.
Undeutsch bleibt jede öffentlich hingestellte Nackt¬
heit. Die Unterhaltung zweier Damen über den
kolossalen Apollo im Thiergarten von Berlin,
und die derbe Abfertigung durch einen Solda¬
ten, der am Brandenburger Thor seinen Posten
hatte und auch Französisch verstand, läuft dort
sonntäglich von Mund zu Mund. Und ohne
Zweifel war es ein richtiger und Deutscher Sinn,
wonach in den letztern Jahren das Auffallendste
an der Bildsäule, nach sonstiger guter Gewohn¬
heit, bedeckt worden. Wer den keuschen Sinn
des Volks ehren will, baue für die Heiligthümer
des Altschönen eine Halle. Da werden sie aus¬
dauern, ohne Verspottung und Ärgerniß; denn
unser Himmelsstrich will für Alles ein Kleid.
Was soll unser Volk mit Centauren, Ungeheu¬
ern und Griechenlands ausgegötterten Göttern?
Eine andere Sittenlehre leitet seinen Wandel,
eine andere Religion erwärmt sein Herz, eine

Man ſchilt den Deutſchen gemeinen Mann
einen Barbaren, weil er Nacktheiten bildender
Kunſt ſchändet. Aber Nacktheit iſt bei uns wi¬
der Glauben, Pflicht und Volksthum; ſelbſt der
Bettler deckt ſeine Scham noch mit Lumpeu.
Undeutſch bleibt jede öffentlich hingeſtellte Nackt¬
heit. Die Unterhaltung zweier Damen über den
koloſſalen Apollo im Thiergarten von Berlin,
und die derbe Abfertigung durch einen Solda¬
ten, der am Brandenburger Thor ſeinen Poſten
hatte und auch Franzöſiſch verſtand, läuft dort
ſonntäglich von Mund zu Mund. Und ohne
Zweifel war es ein richtiger und Deutſcher Sinn,
wonach in den letztern Jahren das Auffallendſte
an der Bildſäule, nach ſonſtiger guter Gewohn¬
heit, bedeckt worden. Wer den keuſchen Sinn
des Volks ehren will, baue für die Heiligthümer
des Altſchönen eine Halle. Da werden ſie aus¬
dauern, ohne Verſpottung und Ärgerniß; denn
unſer Himmelsſtrich will für Alles ein Kleid.
Was ſoll unſer Volk mit Centauren, Ungeheu¬
ern und Griechenlands ausgegötterten Göttern?
Eine andere Sittenlehre leitet ſeinen Wandel,
eine andere Religion erwärmt ſein Herz, eine

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[237/0267] 237 Man ſchilt den Deutſchen gemeinen Mann einen Barbaren, weil er Nacktheiten bildender Kunſt ſchändet. Aber Nacktheit iſt bei uns wi¬ der Glauben, Pflicht und Volksthum; ſelbſt der Bettler deckt ſeine Scham noch mit Lumpeu. Undeutſch bleibt jede öffentlich hingeſtellte Nackt¬ heit. Die Unterhaltung zweier Damen über den koloſſalen Apollo im Thiergarten von Berlin, und die derbe Abfertigung durch einen Solda¬ ten, der am Brandenburger Thor ſeinen Poſten hatte und auch Franzöſiſch verſtand, läuft dort ſonntäglich von Mund zu Mund. Und ohne Zweifel war es ein richtiger und Deutſcher Sinn, wonach in den letztern Jahren das Auffallendſte an der Bildſäule, nach ſonſtiger guter Gewohn¬ heit, bedeckt worden. Wer den keuſchen Sinn des Volks ehren will, baue für die Heiligthümer des Altſchönen eine Halle. Da werden ſie aus¬ dauern, ohne Verſpottung und Ärgerniß; denn unſer Himmelsſtrich will für Alles ein Kleid. Was ſoll unſer Volk mit Centauren, Ungeheu¬ ern und Griechenlands ausgegötterten Göttern? Eine andere Sittenlehre leitet ſeinen Wandel, eine andere Religion erwärmt ſein Herz, eine

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Zitationshilfe: Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810/267>, abgerufen am 25.11.2024.