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Jahn, Otto: Gottfried Herrmann. Eine Gedächnissrede. Leipzig, 1849.

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Dichter sagte er nur, was er fühlte, und überliess dies Gefühl Anderen zu entwickeln. Keiner that es: denn keiner fühlte, wie Bentley." So ging selbst die Kenntniss der gewöhnlichen Metra fast ganz verloren, Bentleys Lehren galten für thörichte Einfälle. Erst gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts erweckte das regere Studium der griechischen Tragiker auch die Aufmerksamkeit auf die Metra derselben, aber wie in grammatischen Fragen, brachte man es nur zu einer empirischen Silbenzählerei, und auch dies nur für die geläufigeren Masse. Selbst Reiz, dem Hermann auch die Anregung zu den metrischen Studien und die Erkenntniss und Verehrung für Bentleys grosses Vorbild verdankt, stand noch auf diesem Standpunkt, und Porson, als Kritiker durch Scharfsinn, Sorgfalt und Gründlichkeit hervorragend, kam in der Metrik, auf die er zuerst wieder das Studium lenkte, nicht über empirische Beobachtungen des Gewöhnlichsten hinaus. Hermann war es, der mit genialer Kühnheit die Bahn brach. Er durchforschte das ganze Gebiet der alten Poesie und entdeckte auch in der scheinbaren Willkühr der freien lyrischen Masse Ordnung und Gesetz. Unbekümmert um die Auctorität der alten Grammatiker drang er in das Wesen des Rhythmus ein und bestimmte aus dieser Einsicht die nothwendigen, allgemeinen Gesetze der Metrik. Gestützt auf die sorgfältigste und schärfste Beobachtung erklärte er die einzelnen Masse und ihren Gebrauch, ihre Verbindung zu grösseren Gruppen, die in der strophischen Composition ihr höchstes Ziel erreicht, er wies die strenge Gesetzmässigkeit und die geniale Freiheit in der metrischen Kunst der Alten nach, und verfolgte die Entwickelung derselben in ihren einzelnen Spuren. In allen wesentlichen Punkten stellte er gleich zu Anfang in der Schrift de metris (1796) mit sicherer Hand das ganze Gebäude fertig hin; im Einzelnen wurde er nicht müde, an dieser Aufgabe seines Lebens zu bessern und zu feilen. Auch praktisch führte er seine Ansichten gleich an der schwierigsten Aufgabe, am Pindar, durch. Heyne, der mit grammatischer und metrischer Kritik nicht eben vertraut war, ersuchte ihn, dieselbe am Pindar zu üben, und unter seiner kühnen und kunstgeübten Hand entwickelte sich aus dem, was man höchstens als eine Art von Streckversen angesehen hatte, die prachtvolle Gliederung der chorischen Lyrik (1798); nicht minder neue Aufschlüsse gab er über die pindarische Sprache, und bahnte der Kritik desselben, die er durch geniale Emendationen, wie Niemand ausser ihm, gefördert hat, den Weg, auf dem später Böckh fortgeschritten ist. Er hatte aber durch

Dichter sagte er nur, was er fühlte, und überliess dies Gefühl Anderen zu entwickeln. Keiner that es: denn keiner fühlte, wie Bentley.» So ging selbst die Kenntniss der gewöhnlichen Metra fast ganz verloren, Bentleys Lehren galten für thörichte Einfälle. Erst gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts erweckte das regere Studium der griechischen Tragiker auch die Aufmerksamkeit auf die Metra derselben, aber wie in grammatischen Fragen, brachte man es nur zu einer empirischen Silbenzählerei, und auch dies nur für die geläufigeren Masse. Selbst Reiz, dem Hermann auch die Anregung zu den metrischen Studien und die Erkenntniss und Verehrung für Bentleys grosses Vorbild verdankt, stand noch auf diesem Standpunkt, und Porson, als Kritiker durch Scharfsinn, Sorgfalt und Gründlichkeit hervorragend, kam in der Metrik, auf die er zuerst wieder das Studium lenkte, nicht über empirische Beobachtungen des Gewöhnlichsten hinaus. Hermann war es, der mit genialer Kühnheit die Bahn brach. Er durchforschte das ganze Gebiet der alten Poesie und entdeckte auch in der scheinbaren Willkühr der freien lyrischen Masse Ordnung und Gesetz. Unbekümmert um die Auctorität der alten Grammatiker drang er in das Wesen des Rhythmus ein und bestimmte aus dieser Einsicht die nothwendigen, allgemeinen Gesetze der Metrik. Gestützt auf die sorgfältigste und schärfste Beobachtung erklärte er die einzelnen Masse und ihren Gebrauch, ihre Verbindung zu grösseren Gruppen, die in der strophischen Composition ihr höchstes Ziel erreicht, er wies die strenge Gesetzmässigkeit und die geniale Freiheit in der metrischen Kunst der Alten nach, und verfolgte die Entwickelung derselben in ihren einzelnen Spuren. In allen wesentlichen Punkten stellte er gleich zu Anfang in der Schrift de metris (1796) mit sicherer Hand das ganze Gebäude fertig hin; im Einzelnen wurde er nicht müde, an dieser Aufgabe seines Lebens zu bessern und zu feilen. Auch praktisch führte er seine Ansichten gleich an der schwierigsten Aufgabe, am Pindar, durch. Heyne, der mit grammatischer und metrischer Kritik nicht eben vertraut war, ersuchte ihn, dieselbe am Pindar zu üben, und unter seiner kühnen und kunstgeübten Hand entwickelte sich aus dem, was man höchstens als eine Art von Streckversen angesehen hatte, die prachtvolle Gliederung der chorischen Lyrik (1798); nicht minder neue Aufschlüsse gab er über die pindarische Sprache, und bahnte der Kritik desselben, die er durch geniale Emendationen, wie Niemand ausser ihm, gefördert hat, den Weg, auf dem später Böckh fortgeschritten ist. Er hatte aber durch

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Dichter sagte er nur, was er fühlte, und überliess dies Gefühl Anderen zu entwickeln. Keiner that es: denn keiner fühlte, wie Bentley.» So ging selbst die Kenntniss der gewöhnlichen Metra fast ganz verloren, Bentleys Lehren galten für thörichte Einfälle. Erst gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts erweckte das regere Studium der griechischen Tragiker auch die Aufmerksamkeit auf die Metra derselben, aber wie in grammatischen Fragen, brachte man es nur zu einer empirischen Silbenzählerei, und auch dies nur für die geläufigeren Masse. Selbst Reiz, dem Hermann auch die Anregung zu den metrischen Studien und die Erkenntniss und Verehrung für Bentleys grosses Vorbild verdankt, stand noch auf diesem Standpunkt, und Porson, als Kritiker durch Scharfsinn, Sorgfalt und Gründlichkeit hervorragend, kam in der Metrik, auf die er zuerst wieder das Studium lenkte, nicht über empirische Beobachtungen des Gewöhnlichsten hinaus. Hermann war es, der mit genialer Kühnheit die Bahn brach. Er durchforschte das ganze Gebiet der alten Poesie und entdeckte auch in der scheinbaren Willkühr der freien lyrischen Masse Ordnung und Gesetz. Unbekümmert um die Auctorität der alten Grammatiker drang er in das Wesen des Rhythmus ein und bestimmte aus dieser Einsicht die nothwendigen, allgemeinen Gesetze der Metrik. Gestützt auf die sorgfältigste und schärfste Beobachtung erklärte er die einzelnen Masse und ihren Gebrauch, ihre Verbindung zu grösseren Gruppen, die in der strophischen Composition ihr höchstes Ziel erreicht, er wies die strenge Gesetzmässigkeit und die geniale Freiheit in der metrischen Kunst der Alten nach, und verfolgte die Entwickelung derselben in ihren einzelnen Spuren. In allen wesentlichen Punkten stellte er gleich zu Anfang in der Schrift <hi rendition="#i">de metris</hi> (1796) mit sicherer Hand das ganze Gebäude fertig hin; im Einzelnen wurde er nicht müde, an dieser Aufgabe seines Lebens zu bessern und zu feilen. Auch praktisch führte er seine Ansichten gleich an der schwierigsten Aufgabe, am Pindar, durch. Heyne, der mit grammatischer und metrischer Kritik nicht eben vertraut war, ersuchte ihn, dieselbe am Pindar zu üben, und unter seiner kühnen und kunstgeübten Hand entwickelte sich aus dem, was man höchstens als eine Art von Streckversen angesehen hatte, die prachtvolle Gliederung der chorischen Lyrik (1798); nicht minder neue Aufschlüsse gab er über die pindarische Sprache, und bahnte der Kritik desselben, die er durch geniale Emendationen, wie Niemand ausser ihm, gefördert hat, den Weg, auf dem später Böckh fortgeschritten ist. Er hatte aber durch
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[17/0017] Dichter sagte er nur, was er fühlte, und überliess dies Gefühl Anderen zu entwickeln. Keiner that es: denn keiner fühlte, wie Bentley.» So ging selbst die Kenntniss der gewöhnlichen Metra fast ganz verloren, Bentleys Lehren galten für thörichte Einfälle. Erst gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts erweckte das regere Studium der griechischen Tragiker auch die Aufmerksamkeit auf die Metra derselben, aber wie in grammatischen Fragen, brachte man es nur zu einer empirischen Silbenzählerei, und auch dies nur für die geläufigeren Masse. Selbst Reiz, dem Hermann auch die Anregung zu den metrischen Studien und die Erkenntniss und Verehrung für Bentleys grosses Vorbild verdankt, stand noch auf diesem Standpunkt, und Porson, als Kritiker durch Scharfsinn, Sorgfalt und Gründlichkeit hervorragend, kam in der Metrik, auf die er zuerst wieder das Studium lenkte, nicht über empirische Beobachtungen des Gewöhnlichsten hinaus. Hermann war es, der mit genialer Kühnheit die Bahn brach. Er durchforschte das ganze Gebiet der alten Poesie und entdeckte auch in der scheinbaren Willkühr der freien lyrischen Masse Ordnung und Gesetz. Unbekümmert um die Auctorität der alten Grammatiker drang er in das Wesen des Rhythmus ein und bestimmte aus dieser Einsicht die nothwendigen, allgemeinen Gesetze der Metrik. Gestützt auf die sorgfältigste und schärfste Beobachtung erklärte er die einzelnen Masse und ihren Gebrauch, ihre Verbindung zu grösseren Gruppen, die in der strophischen Composition ihr höchstes Ziel erreicht, er wies die strenge Gesetzmässigkeit und die geniale Freiheit in der metrischen Kunst der Alten nach, und verfolgte die Entwickelung derselben in ihren einzelnen Spuren. In allen wesentlichen Punkten stellte er gleich zu Anfang in der Schrift de metris (1796) mit sicherer Hand das ganze Gebäude fertig hin; im Einzelnen wurde er nicht müde, an dieser Aufgabe seines Lebens zu bessern und zu feilen. Auch praktisch führte er seine Ansichten gleich an der schwierigsten Aufgabe, am Pindar, durch. Heyne, der mit grammatischer und metrischer Kritik nicht eben vertraut war, ersuchte ihn, dieselbe am Pindar zu üben, und unter seiner kühnen und kunstgeübten Hand entwickelte sich aus dem, was man höchstens als eine Art von Streckversen angesehen hatte, die prachtvolle Gliederung der chorischen Lyrik (1798); nicht minder neue Aufschlüsse gab er über die pindarische Sprache, und bahnte der Kritik desselben, die er durch geniale Emendationen, wie Niemand ausser ihm, gefördert hat, den Weg, auf dem später Böckh fortgeschritten ist. Er hatte aber durch

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Zitationshilfe: Jahn, Otto: Gottfried Herrmann. Eine Gedächnissrede. Leipzig, 1849, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_rede_1849/17>, abgerufen am 29.03.2024.