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Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbahrung antreffen. Bd. 2. Göttingen, 1745.

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würde dessen Tod mir auch einen solchen
Schmertz verursachet haben? Gewiß kei-
nesweges. Jch habe länger als zwey Jahr
mit liebens-würdigen Personen in einem
Hause gelebt, und sie sind in meiner Ge-
genwart erblasset, ich habe aber das nicht
gefühlet, was ich bey der Leiche meines ge-
liebten Kindes empfunden. Die blosse
Zeugung ist auch nicht die eintzige Ursache,
warum ich ein Kind liebe. Würde ein
Kind bald nach der Geburt von mir genom-
men und an einem andern Orte erzogen,
und mir nachgehends, ohne daß ich es kenn-
te, nebst andern Kindern dargestellt, ich
würde gegen selbiges keine grössere Nei-
gung empfinden, als gegen die übrigen.
So bald man mir aber saget: Dieses ist
dein Kind,
so wird sich der Trieb äussern,
der Eltern und Kinder so genau verbindet.
Diejenigen, welchen die Geschichte unserer
Zeiten bekannt sind, erinnern sich, was bey
einem grossen Könige sich geäussert, als
ihm unvermuthet eine natürliche Tochter
dargestellet wurde, mit welcher er keinem
Umgang gehabt und folglich nicht kennte.
Die Worte: Diese ist die und die, rühr-
ten das väterliche Hertz und brachten sel-

biges



wuͤrde deſſen Tod mir auch einen ſolchen
Schmertz verurſachet haben? Gewiß kei-
nesweges. Jch habe laͤnger als zwey Jahr
mit liebens-wuͤrdigen Perſonen in einem
Hauſe gelebt, und ſie ſind in meiner Ge-
genwart erblaſſet, ich habe aber das nicht
gefuͤhlet, was ich bey der Leiche meines ge-
liebten Kindes empfunden. Die bloſſe
Zeugung iſt auch nicht die eintzige Urſache,
warum ich ein Kind liebe. Wuͤrde ein
Kind bald nach der Geburt von mir genom-
men und an einem andern Orte erzogen,
und mir nachgehends, ohne daß ich es kenn-
te, nebſt andern Kindern dargeſtellt, ich
wuͤrde gegen ſelbiges keine groͤſſere Nei-
gung empfinden, als gegen die uͤbrigen.
So bald man mir aber ſaget: Dieſes iſt
dein Kind,
ſo wird ſich der Trieb aͤuſſern,
der Eltern und Kinder ſo genau verbindet.
Diejenigen, welchen die Geſchichte unſerer
Zeiten bekannt ſind, erinnern ſich, was bey
einem groſſen Koͤnige ſich geaͤuſſert, als
ihm unvermuthet eine natuͤrliche Tochter
dargeſtellet wurde, mit welcher er keinem
Umgang gehabt und folglich nicht kennte.
Die Worte: Dieſe iſt die und die, ruͤhr-
ten das vaͤterliche Hertz und brachten ſel-

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[260/0278] wuͤrde deſſen Tod mir auch einen ſolchen Schmertz verurſachet haben? Gewiß kei- nesweges. Jch habe laͤnger als zwey Jahr mit liebens-wuͤrdigen Perſonen in einem Hauſe gelebt, und ſie ſind in meiner Ge- genwart erblaſſet, ich habe aber das nicht gefuͤhlet, was ich bey der Leiche meines ge- liebten Kindes empfunden. Die bloſſe Zeugung iſt auch nicht die eintzige Urſache, warum ich ein Kind liebe. Wuͤrde ein Kind bald nach der Geburt von mir genom- men und an einem andern Orte erzogen, und mir nachgehends, ohne daß ich es kenn- te, nebſt andern Kindern dargeſtellt, ich wuͤrde gegen ſelbiges keine groͤſſere Nei- gung empfinden, als gegen die uͤbrigen. So bald man mir aber ſaget: Dieſes iſt dein Kind, ſo wird ſich der Trieb aͤuſſern, der Eltern und Kinder ſo genau verbindet. Diejenigen, welchen die Geſchichte unſerer Zeiten bekannt ſind, erinnern ſich, was bey einem groſſen Koͤnige ſich geaͤuſſert, als ihm unvermuthet eine natuͤrliche Tochter dargeſtellet wurde, mit welcher er keinem Umgang gehabt und folglich nicht kennte. Die Worte: Dieſe iſt die und die, ruͤhr- ten das vaͤterliche Hertz und brachten ſel- biges

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Zitationshilfe: Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbahrung antreffen. Bd. 2. Göttingen, 1745, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_betrachtungen02_1745/278>, abgerufen am 24.11.2024.