Uebrigens, da dem Menschen jede Mey- nung lieber als sein Leben werden kann (*), so liegt die Gewalt überhaupt der Begriffe, die überwiegende Energie der vernünftigen Natur (nicht des Gedankendinges Ver- nunft) damit so klar zu Tage, daß nur ein Thor sie läugnen kann. Und wie sollte ihre Gewalt nicht die höchste, der Begriff nicht im allgemeinen mächtiger als die Empfindung seyn, da unser zeitliches, aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengesetztes Be- wußtseyn, im Begriffe allein sein Daseyn haben kann? Alles was in der Zeit lebt, muß sein gegenwärtiges Bewußtseyn, sein zeitliches Leben erst erzeugen, innerlich alleinthä- tig, durch Verknüpfung. Also ist die Form des Lebens, und der Trieb zum Le- ben, und das Leben selbst, im Wirkli-
(*)Toute opinion est assez forte, pour se faire espouser au prix de la vie, sagt Montaigne im XL. Cap. des Ersten Buches seiner Ver- suche, und läßt es nicht an Beweisen mangeln.
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Uebrigens, da dem Menſchen jede Mey- nung lieber als ſein Leben werden kann (*), ſo liegt die Gewalt uͤberhaupt der Begriffe, die uͤberwiegende Energie der vernuͤnftigen Natur (nicht des Gedankendinges Ver- nunft) damit ſo klar zu Tage, daß nur ein Thor ſie laͤugnen kann. Und wie ſollte ihre Gewalt nicht die hoͤchſte, der Begriff nicht im allgemeinen maͤchtiger als die Empfindung ſeyn, da unſer zeitliches, aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zuſammengeſetztes Be- wußtſeyn, im Begriffe allein ſein Daſeyn haben kann? Alles was in der Zeit lebt, muß ſein gegenwaͤrtiges Bewußtſeyn, ſein zeitliches Leben erſt erzeugen, innerlich alleinthaͤ- tig, durch Verknuͤpfung. Alſo iſt die Form des Lebens, und der Trieb zum Le- ben, und das Leben ſelbſt, im Wirkli-
(*)Toute opinion eſt aſſez forte, pour ſe faire eſpouſer au prix de la vie, ſagt Montaigne im XL. Cap. des Erſten Buches ſeiner Ver- ſuche, und laͤßt es nicht an Beweiſen mangeln.
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Uebrigens, da dem Menſchen jede Mey-
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ſo liegt die Gewalt uͤberhaupt der Begriffe,
die uͤberwiegende Energie der vernuͤnftigen
Natur (nicht des Gedankendinges Ver-
nunft) damit ſo klar zu Tage, daß nur ein
Thor ſie laͤugnen kann. Und wie ſollte ihre
Gewalt nicht die hoͤchſte, der Begriff nicht im
allgemeinen maͤchtiger als die Empfindung ſeyn,
da unſer zeitliches, aus Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft zuſammengeſetztes Be-
wußtſeyn, im Begriffe allein ſein Daſeyn
haben kann? Alles was in der Zeit lebt, muß
ſein gegenwaͤrtiges Bewußtſeyn, ſein zeitliches
Leben erſt erzeugen, innerlich alleinthaͤ-
tig, durch Verknuͤpfung. Alſo iſt die
Form des Lebens, und der Trieb zum Le-
ben, und das Leben ſelbſt, im Wirkli-
(*) Toute opinion eſt aſſez forte, pour ſe faire
eſpouſer au prix de la vie, ſagt Montaigne
im XL. Cap. des Erſten Buches ſeiner Ver-
ſuche, und laͤßt es nicht an Beweiſen mangeln.
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Jacobi, Friedrich Heinrich: Eduard Allwills Briefsammlung. Mit einer Zugabe von eigenen Briefen. Königsberg, 1792, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_allwill_1792/335>, abgerufen am 29.07.2024.
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