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Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 4. Düsseldorf, 1839.

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Hause ein leidendes Kind seine Entschlüsse reif ge-
dacht. Lisbeth war in schweren Körperschmerzen
den ganzen Vormittag über auf ihrem Lager ge-
blieben und hatte sich erst um die Zeit, als ihr
alter Gastfreund seine trostlose Entdeckung machte,
erhoben und angekleidet. Sie war so ernst, bleich
und still, wie am Abend zuvor, da ihre Thränen
versiegten. Aber diese hatten den Augen des
Mädchens nicht geschadet; sie leuchteten von einem
fast überirdischen Glanze. Der hohe Berg, auf
dessen Gipfel sie im Jubel ihrer Wonne zu stehen
gemeint hatte, war unter ihr eingesunken, und
die rothen Wolken hatten sich verzogen, aber den-
noch kam es ihr vor, als schritte sie eben so hoch
und noch höher einher, und es war ihr, als trü-
gen Lüfte ohne Wolken, aetherreine und aetherklare
ihre Füße.

Sie setzte sich an ihren Tisch und sagte mit
einer himmlischen Zuversicht im Ton: Ein Find-
ling ist Gottes Kind. Und wen Vater und Mutter
in der Irre stehen gelassen haben, den wird Gott
bei der Hand nehmen und nach Hause führen. --
Die Schmerzen hatten eine wunderbare Verwan-
delung in ihr gewirkt. Zu ihren sogenannten Pfle-

Hauſe ein leidendes Kind ſeine Entſchlüſſe reif ge-
dacht. Lisbeth war in ſchweren Körperſchmerzen
den ganzen Vormittag über auf ihrem Lager ge-
blieben und hatte ſich erſt um die Zeit, als ihr
alter Gaſtfreund ſeine troſtloſe Entdeckung machte,
erhoben und angekleidet. Sie war ſo ernſt, bleich
und ſtill, wie am Abend zuvor, da ihre Thränen
verſiegten. Aber dieſe hatten den Augen des
Mädchens nicht geſchadet; ſie leuchteten von einem
faſt überirdiſchen Glanze. Der hohe Berg, auf
deſſen Gipfel ſie im Jubel ihrer Wonne zu ſtehen
gemeint hatte, war unter ihr eingeſunken, und
die rothen Wolken hatten ſich verzogen, aber den-
noch kam es ihr vor, als ſchritte ſie eben ſo hoch
und noch höher einher, und es war ihr, als trü-
gen Lüfte ohne Wolken, aetherreine und aetherklare
ihre Füße.

Sie ſetzte ſich an ihren Tiſch und ſagte mit
einer himmliſchen Zuverſicht im Ton: Ein Find-
ling iſt Gottes Kind. Und wen Vater und Mutter
in der Irre ſtehen gelaſſen haben, den wird Gott
bei der Hand nehmen und nach Hauſe führen. —
Die Schmerzen hatten eine wunderbare Verwan-
delung in ihr gewirkt. Zu ihren ſogenannten Pfle-

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[71/0083] Hauſe ein leidendes Kind ſeine Entſchlüſſe reif ge- dacht. Lisbeth war in ſchweren Körperſchmerzen den ganzen Vormittag über auf ihrem Lager ge- blieben und hatte ſich erſt um die Zeit, als ihr alter Gaſtfreund ſeine troſtloſe Entdeckung machte, erhoben und angekleidet. Sie war ſo ernſt, bleich und ſtill, wie am Abend zuvor, da ihre Thränen verſiegten. Aber dieſe hatten den Augen des Mädchens nicht geſchadet; ſie leuchteten von einem faſt überirdiſchen Glanze. Der hohe Berg, auf deſſen Gipfel ſie im Jubel ihrer Wonne zu ſtehen gemeint hatte, war unter ihr eingeſunken, und die rothen Wolken hatten ſich verzogen, aber den- noch kam es ihr vor, als ſchritte ſie eben ſo hoch und noch höher einher, und es war ihr, als trü- gen Lüfte ohne Wolken, aetherreine und aetherklare ihre Füße. Sie ſetzte ſich an ihren Tiſch und ſagte mit einer himmliſchen Zuverſicht im Ton: Ein Find- ling iſt Gottes Kind. Und wen Vater und Mutter in der Irre ſtehen gelaſſen haben, den wird Gott bei der Hand nehmen und nach Hauſe führen. — Die Schmerzen hatten eine wunderbare Verwan- delung in ihr gewirkt. Zu ihren ſogenannten Pfle-

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Zitationshilfe: Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 4. Düsseldorf, 1839, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen04_1839/83>, abgerufen am 27.04.2024.