damals von Mund zu Munde ging und ungefähr so lautete;
Die schönste Rose, die da blüht, Das ist der rosenfarbne Mund Von wonniglichen Weiben; Sie thut sich erst als Knospe kund, In sich geschlossen, und bemüht, So recht für sich zu bleiben!
Der Mai küßt alle Rosen wach, Auf rosenfarbnen Mund der Kuß: Die Lippe kommt zum Blühen; Drum keine Lippe ohne Kuß, Und jedem Kuß an seinem Tag Der schönsten Lippen Glühen!
Ein Schmetterling flog vor dem Schüler auf. Ist das Leben der meisten Menschen nicht dem Flat- tern dieses Falters zu vergleichen? sagte er. Bunt und leicht prunkt er dahin und doch sind seine Freuden so kurz und öde. Mit gewaltigen, großen Augen blickt er umher, aber die matten Spiegel empfinden nur eine leere Abwechselung von Licht und Schatten, nicht die volle Gestalt, die feste Farbe. -- Der Wald sah ihn aus seinen grünen Tiefen mit unwiderstehlichem Blick an. Was thut's, rief er, wenn mein geduldig Thier auf diesem Rasen eine Weile allein zurückbleibt! Es läuft mir nicht davon, ich spüre so eine innige Sehnsucht, ein
damals von Mund zu Munde ging und ungefähr ſo lautete;
Die ſchönſte Roſe, die da blüht, Das iſt der roſenfarbne Mund Von wonniglichen Weiben; Sie thut ſich erſt als Knospe kund, In ſich geſchloſſen, und bemüht, So recht für ſich zu bleiben!
Der Mai küßt alle Roſen wach, Auf roſenfarbnen Mund der Kuß: Die Lippe kommt zum Blühen; Drum keine Lippe ohne Kuß, Und jedem Kuß an ſeinem Tag Der ſchönſten Lippen Glühen!
Ein Schmetterling flog vor dem Schüler auf. Iſt das Leben der meiſten Menſchen nicht dem Flat- tern dieſes Falters zu vergleichen? ſagte er. Bunt und leicht prunkt er dahin und doch ſind ſeine Freuden ſo kurz und öde. Mit gewaltigen, großen Augen blickt er umher, aber die matten Spiegel empfinden nur eine leere Abwechſelung von Licht und Schatten, nicht die volle Geſtalt, die feſte Farbe. — Der Wald ſah ihn aus ſeinen grünen Tiefen mit unwiderſtehlichem Blick an. Was thut’s, rief er, wenn mein geduldig Thier auf dieſem Raſen eine Weile allein zurückbleibt! Es läuft mir nicht davon, ich ſpüre ſo eine innige Sehnſucht, ein
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damals von Mund zu Munde ging und ungefähr
ſo lautete;
Die ſchönſte Roſe, die da blüht,
Das iſt der roſenfarbne Mund
Von wonniglichen Weiben;
Sie thut ſich erſt als Knospe kund,
In ſich geſchloſſen, und bemüht,
So recht für ſich zu bleiben!
Der Mai küßt alle Roſen wach,
Auf roſenfarbnen Mund der Kuß:
Die Lippe kommt zum Blühen;
Drum keine Lippe ohne Kuß,
Und jedem Kuß an ſeinem Tag
Der ſchönſten Lippen Glühen!
Ein Schmetterling flog vor dem Schüler auf.
Iſt das Leben der meiſten Menſchen nicht dem Flat-
tern dieſes Falters zu vergleichen? ſagte er. Bunt
und leicht prunkt er dahin und doch ſind ſeine
Freuden ſo kurz und öde. Mit gewaltigen, großen
Augen blickt er umher, aber die matten Spiegel
empfinden nur eine leere Abwechſelung von Licht
und Schatten, nicht die volle Geſtalt, die feſte
Farbe. — Der Wald ſah ihn aus ſeinen grünen
Tiefen mit unwiderſtehlichem Blick an. Was thut’s,
rief er, wenn mein geduldig Thier auf dieſem Raſen
eine Weile allein zurückbleibt! Es läuft mir nicht
davon, ich ſpüre ſo eine innige Sehnſucht, ein
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Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 3. Düsseldorf, 1839, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen03_1839/169>, abgerufen am 25.11.2024.
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