Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Nacht, denn er wollte sich schlafen legen. Warum war ich denn hergekommen? Ich war äußerst böse auf mich und mein Quängeln, auf den Liberalismus, den Servilismus und den Magnetismus, die mich um unser deutsches Volksfest mit seinen Chikanen und Cabalen so schnöde gebracht hatten.

Nun stand noch meine ganze Hoffnung auf den großen Ball im alten Reichssaale Gürzenich. Aber wollte ich Masken sehen? Ach nein, ganz andre Dinge wünschte ich, hoffte ich zu erblicken. Das Herz ist ein fruchtbarer Acker, und die Gefühle sind ein unvertilgbares Unkraut; die Jahre mögen noch so lange darüber hingepflügt haben, immer schlagen die Keime wieder aus. Ich war doch ein verheiratheter Mann von Charakter, und Grundsätzen, wie durfte ich denn nun den ganzen Nachmittag über und die Abendstunden hindurch an nichts denken, als an die sonderbaren Zeilen in der Carnevals-Zeitung, und ob Sidonie wohl ihr Wort halten werde? Aber es ist ja auch weiter nichts als Neugier, sagte ich zu mir selbst. Diesmal sollte kein System mich über die Stunde des Rendezvous hinaus festhalten, ich blieb unter dem Vorwände einer Unpäßlichkeit auf meinem Zimmer allein und schlich mit dem Glockenschlage Zehn, in meinen Mantel gehüllt, den Domino darunter, aus dem Hause. Aus dem weitläufigen, winkligen Gebäude drang mir der Schall der Geigen und Flöten, der

Nacht, denn er wollte sich schlafen legen. Warum war ich denn hergekommen? Ich war äußerst böse auf mich und mein Quängeln, auf den Liberalismus, den Servilismus und den Magnetismus, die mich um unser deutsches Volksfest mit seinen Chikanen und Cabalen so schnöde gebracht hatten.

Nun stand noch meine ganze Hoffnung auf den großen Ball im alten Reichssaale Gürzenich. Aber wollte ich Masken sehen? Ach nein, ganz andre Dinge wünschte ich, hoffte ich zu erblicken. Das Herz ist ein fruchtbarer Acker, und die Gefühle sind ein unvertilgbares Unkraut; die Jahre mögen noch so lange darüber hingepflügt haben, immer schlagen die Keime wieder aus. Ich war doch ein verheiratheter Mann von Charakter, und Grundsätzen, wie durfte ich denn nun den ganzen Nachmittag über und die Abendstunden hindurch an nichts denken, als an die sonderbaren Zeilen in der Carnevals-Zeitung, und ob Sidonie wohl ihr Wort halten werde? Aber es ist ja auch weiter nichts als Neugier, sagte ich zu mir selbst. Diesmal sollte kein System mich über die Stunde des Rendezvous hinaus festhalten, ich blieb unter dem Vorwände einer Unpäßlichkeit auf meinem Zimmer allein und schlich mit dem Glockenschlage Zehn, in meinen Mantel gehüllt, den Domino darunter, aus dem Hause. Aus dem weitläufigen, winkligen Gebäude drang mir der Schall der Geigen und Flöten, der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="12">
        <p><pb facs="#f0068"/>
Nacht, denn er wollte sich schlafen      legen. Warum war ich denn hergekommen? Ich war äußerst böse auf mich und mein Quängeln, auf den      Liberalismus, den Servilismus und den Magnetismus, die mich um unser deutsches Volksfest mit      seinen Chikanen und Cabalen so schnöde gebracht hatten.</p><lb/>
      </div>
      <div n="13">
        <p>Nun stand noch meine ganze Hoffnung auf den großen Ball im alten Reichssaale Gürzenich. Aber      wollte ich Masken sehen? Ach nein, ganz andre Dinge wünschte ich, hoffte ich zu erblicken. Das      Herz ist ein fruchtbarer Acker, und die Gefühle sind ein unvertilgbares Unkraut; die Jahre      mögen noch so lange darüber hingepflügt haben, immer schlagen die Keime wieder aus. Ich war      doch ein verheiratheter Mann von Charakter, und Grundsätzen, wie durfte ich denn nun den ganzen      Nachmittag über und die Abendstunden hindurch an nichts denken, als an die sonderbaren Zeilen      in der Carnevals-Zeitung, und ob Sidonie wohl ihr Wort halten werde? Aber es ist ja auch weiter      nichts als Neugier, sagte ich zu mir selbst. Diesmal sollte kein System mich über die Stunde      des Rendezvous hinaus festhalten, ich blieb unter dem Vorwände einer Unpäßlichkeit auf meinem      Zimmer allein und schlich mit dem Glockenschlage Zehn, in meinen Mantel gehüllt, den Domino      darunter, aus dem Hause. Aus dem weitläufigen, winkligen Gebäude drang mir der Schall der      Geigen und Flöten, der<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0068] Nacht, denn er wollte sich schlafen legen. Warum war ich denn hergekommen? Ich war äußerst böse auf mich und mein Quängeln, auf den Liberalismus, den Servilismus und den Magnetismus, die mich um unser deutsches Volksfest mit seinen Chikanen und Cabalen so schnöde gebracht hatten. Nun stand noch meine ganze Hoffnung auf den großen Ball im alten Reichssaale Gürzenich. Aber wollte ich Masken sehen? Ach nein, ganz andre Dinge wünschte ich, hoffte ich zu erblicken. Das Herz ist ein fruchtbarer Acker, und die Gefühle sind ein unvertilgbares Unkraut; die Jahre mögen noch so lange darüber hingepflügt haben, immer schlagen die Keime wieder aus. Ich war doch ein verheiratheter Mann von Charakter, und Grundsätzen, wie durfte ich denn nun den ganzen Nachmittag über und die Abendstunden hindurch an nichts denken, als an die sonderbaren Zeilen in der Carnevals-Zeitung, und ob Sidonie wohl ihr Wort halten werde? Aber es ist ja auch weiter nichts als Neugier, sagte ich zu mir selbst. Diesmal sollte kein System mich über die Stunde des Rendezvous hinaus festhalten, ich blieb unter dem Vorwände einer Unpäßlichkeit auf meinem Zimmer allein und schlich mit dem Glockenschlage Zehn, in meinen Mantel gehüllt, den Domino darunter, aus dem Hause. Aus dem weitläufigen, winkligen Gebäude drang mir der Schall der Geigen und Flöten, der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:19:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:19:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/68
Zitationshilfe: Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/68>, abgerufen am 22.11.2024.