Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

leidet, welche ihre Constitution in den innersten Fasern angegriffen haben. Man wandte alle möglichen Mittel an; vergebens; endlich verfiel man auf den Magnetismus, aber keiner der umgebenden Aerzte vermochte sich mit ihr in Rapport zu setzen. Das seltsamste Verhängniß muß mich auf das Schloß ihrer Eltern führen, ich sehe sie, ich versuche den Strich, siehe da, der Zustand tritt ein. Was hierauf folgte, wie sie von Stufe zu Stufe bis zum eigentlichen Hellsehen emporstieg, übergehe ich, es waren nur die Erscheinungen, die Sie schon aus Schriften kennen. Sie verordnet sich endlich das Wasser von Ems, ich reise mit ihr hieher.

Hier angekommen, beginnt sie den Brunnen zu trinken. Aber sonderbar! statt der Heilung nehme ich Rückschritte wahr. Meine ganze Theorie über Untrüglichkeit somnambüler Anschauungen beginnt zu wanken. Sidonie verfällt in die höchste Abspannung, in eine bedenkliche Dumpfheit. Der Schlaf stellt sich intermittirend, gestört ein, sie scheint von der Höhe der inneren Beschauung herabgesunken zu sein. Alle die Quellen, zu denen die Andern gehen, helfen mir nicht! ruft sie mehrmals mit Leidenschaft in ihren Paroxismen aus. Aber was ihr helfen könne? Sie vermag es nicht anzugeben. Endlich, grade heute vor acht Tagen ist es, als ob ihr Wesen wieder zu hellerer Klarheit emporgehoben würde. Mit freudigen Mienen, den Kopf sanft wiegend, sagt sie: O welch ein schönes Wasser! -- Was für ein Wasser? frage ich. Das da droben auf der

leidet, welche ihre Constitution in den innersten Fasern angegriffen haben. Man wandte alle möglichen Mittel an; vergebens; endlich verfiel man auf den Magnetismus, aber keiner der umgebenden Aerzte vermochte sich mit ihr in Rapport zu setzen. Das seltsamste Verhängniß muß mich auf das Schloß ihrer Eltern führen, ich sehe sie, ich versuche den Strich, siehe da, der Zustand tritt ein. Was hierauf folgte, wie sie von Stufe zu Stufe bis zum eigentlichen Hellsehen emporstieg, übergehe ich, es waren nur die Erscheinungen, die Sie schon aus Schriften kennen. Sie verordnet sich endlich das Wasser von Ems, ich reise mit ihr hieher.

Hier angekommen, beginnt sie den Brunnen zu trinken. Aber sonderbar! statt der Heilung nehme ich Rückschritte wahr. Meine ganze Theorie über Untrüglichkeit somnambüler Anschauungen beginnt zu wanken. Sidonie verfällt in die höchste Abspannung, in eine bedenkliche Dumpfheit. Der Schlaf stellt sich intermittirend, gestört ein, sie scheint von der Höhe der inneren Beschauung herabgesunken zu sein. Alle die Quellen, zu denen die Andern gehen, helfen mir nicht! ruft sie mehrmals mit Leidenschaft in ihren Paroxismen aus. Aber was ihr helfen könne? Sie vermag es nicht anzugeben. Endlich, grade heute vor acht Tagen ist es, als ob ihr Wesen wieder zu hellerer Klarheit emporgehoben würde. Mit freudigen Mienen, den Kopf sanft wiegend, sagt sie: O welch ein schönes Wasser! — Was für ein Wasser? frage ich. Das da droben auf der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <p><pb facs="#f0026"/>
leidet, welche ihre Constitution in den innersten Fasern angegriffen haben. Man      wandte alle möglichen Mittel an; vergebens; endlich verfiel man auf den Magnetismus, aber      keiner der umgebenden Aerzte vermochte sich mit ihr in Rapport zu setzen. Das seltsamste      Verhängniß muß mich auf das Schloß ihrer Eltern führen, ich sehe sie, ich versuche den Strich,      siehe da, der Zustand tritt ein. Was hierauf folgte, wie sie von Stufe zu Stufe bis zum      eigentlichen Hellsehen emporstieg, übergehe ich, es waren nur die Erscheinungen, die Sie schon      aus Schriften kennen. Sie verordnet sich endlich das Wasser von Ems, ich reise mit ihr      hieher.</p><lb/>
        <p>Hier angekommen, beginnt sie den Brunnen zu trinken. Aber sonderbar! statt der Heilung nehme      ich Rückschritte wahr. Meine ganze Theorie über Untrüglichkeit somnambüler Anschauungen beginnt      zu wanken. Sidonie verfällt in die höchste Abspannung, in eine bedenkliche Dumpfheit. Der      Schlaf stellt sich intermittirend, gestört ein, sie scheint von der Höhe der inneren Beschauung      herabgesunken zu sein. Alle die Quellen, zu denen die Andern gehen, helfen mir nicht! ruft sie      mehrmals mit Leidenschaft in ihren Paroxismen aus. Aber was ihr helfen könne? Sie vermag es      nicht anzugeben. Endlich, grade heute vor acht Tagen ist es, als ob ihr Wesen wieder zu      hellerer Klarheit emporgehoben würde. Mit freudigen Mienen, den Kopf sanft wiegend, sagt sie: O      welch ein schönes Wasser! &#x2014; Was für ein Wasser? frage ich. Das da droben auf der<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0026] leidet, welche ihre Constitution in den innersten Fasern angegriffen haben. Man wandte alle möglichen Mittel an; vergebens; endlich verfiel man auf den Magnetismus, aber keiner der umgebenden Aerzte vermochte sich mit ihr in Rapport zu setzen. Das seltsamste Verhängniß muß mich auf das Schloß ihrer Eltern führen, ich sehe sie, ich versuche den Strich, siehe da, der Zustand tritt ein. Was hierauf folgte, wie sie von Stufe zu Stufe bis zum eigentlichen Hellsehen emporstieg, übergehe ich, es waren nur die Erscheinungen, die Sie schon aus Schriften kennen. Sie verordnet sich endlich das Wasser von Ems, ich reise mit ihr hieher. Hier angekommen, beginnt sie den Brunnen zu trinken. Aber sonderbar! statt der Heilung nehme ich Rückschritte wahr. Meine ganze Theorie über Untrüglichkeit somnambüler Anschauungen beginnt zu wanken. Sidonie verfällt in die höchste Abspannung, in eine bedenkliche Dumpfheit. Der Schlaf stellt sich intermittirend, gestört ein, sie scheint von der Höhe der inneren Beschauung herabgesunken zu sein. Alle die Quellen, zu denen die Andern gehen, helfen mir nicht! ruft sie mehrmals mit Leidenschaft in ihren Paroxismen aus. Aber was ihr helfen könne? Sie vermag es nicht anzugeben. Endlich, grade heute vor acht Tagen ist es, als ob ihr Wesen wieder zu hellerer Klarheit emporgehoben würde. Mit freudigen Mienen, den Kopf sanft wiegend, sagt sie: O welch ein schönes Wasser! — Was für ein Wasser? frage ich. Das da droben auf der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:19:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:19:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/26
Zitationshilfe: Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/26>, abgerufen am 22.11.2024.