Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

liches Bild. Ich sah bis auf den Grund der Spalte, ich sah den Fremden da unten liegen, ganz zerschmettert und von Blut überströmt, nach mir hinauf starrte sein gebrochnes und sterbendes Auge. Alsobald that meine Seele, wie durch eine ungeheure Kraft bezwungen, ein unfreiwilliges Gelübde. Alles dieses, was ich damals sah und erlebte, war wie ein Blitz, der vorüber ist, ehe man fragen kann: woher kommst du? Ich schlug sogleich die Augen wieder auf und sah den Fremden oben, heil, nur an der Hand blutend. Er rief mir einige scherzhafte Worte zu, er meinte, ich habe, von seiner Wunde erschreckt, geschrieen. Ich aber hatte gesehen, daß ich zur Mörderin hätte werden können. So geschah auf dem Felsen statt des Wunders, das der Betrug ersonnen hatte, ein andres, und ich leerte den Becher, welchen mir der Fremde reichte, auf meine Besserung. Ich kehrte verwandelt, mit einem Herzen voll Dornen, fest in dem Entschlüsse, mich nicht ferner zu dergleichen Gaukeleien herzugeben, nach meiner Wohnung zurück. Nun aber sollte ich erfahren, was es heiße, in den Schlingen des Lasters gefangen zu sein.

Tief in der Nacht kam mein Begleiter zu mir und kündigte mir an, daß jener angebliche Gelehrte mich schlafend zu sehen wünsche, und daß ich mich bereit halten möge, am folgenden Vormittag somnambül zu sein. Ich weigerte mich und erklärte ihm, daß ich nie wieder diese Rolle spielen würde. Es erfolgte eine heftige Scene zwischen uns, er bat, befahl, drohte, ich wider-

liches Bild. Ich sah bis auf den Grund der Spalte, ich sah den Fremden da unten liegen, ganz zerschmettert und von Blut überströmt, nach mir hinauf starrte sein gebrochnes und sterbendes Auge. Alsobald that meine Seele, wie durch eine ungeheure Kraft bezwungen, ein unfreiwilliges Gelübde. Alles dieses, was ich damals sah und erlebte, war wie ein Blitz, der vorüber ist, ehe man fragen kann: woher kommst du? Ich schlug sogleich die Augen wieder auf und sah den Fremden oben, heil, nur an der Hand blutend. Er rief mir einige scherzhafte Worte zu, er meinte, ich habe, von seiner Wunde erschreckt, geschrieen. Ich aber hatte gesehen, daß ich zur Mörderin hätte werden können. So geschah auf dem Felsen statt des Wunders, das der Betrug ersonnen hatte, ein andres, und ich leerte den Becher, welchen mir der Fremde reichte, auf meine Besserung. Ich kehrte verwandelt, mit einem Herzen voll Dornen, fest in dem Entschlüsse, mich nicht ferner zu dergleichen Gaukeleien herzugeben, nach meiner Wohnung zurück. Nun aber sollte ich erfahren, was es heiße, in den Schlingen des Lasters gefangen zu sein.

Tief in der Nacht kam mein Begleiter zu mir und kündigte mir an, daß jener angebliche Gelehrte mich schlafend zu sehen wünsche, und daß ich mich bereit halten möge, am folgenden Vormittag somnambül zu sein. Ich weigerte mich und erklärte ihm, daß ich nie wieder diese Rolle spielen würde. Es erfolgte eine heftige Scene zwischen uns, er bat, befahl, drohte, ich wider-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="17">
        <div>
          <p><pb facs="#f0104"/>
liches Bild. Ich sah bis auf den      Grund der Spalte, ich sah den Fremden da unten liegen, ganz zerschmettert und von Blut      überströmt, nach mir hinauf starrte sein gebrochnes und sterbendes Auge. Alsobald that meine      Seele, wie durch eine ungeheure Kraft bezwungen, ein unfreiwilliges Gelübde. Alles dieses, was      ich damals sah und erlebte, war wie ein Blitz, der vorüber ist, ehe man fragen kann: woher      kommst du? Ich schlug sogleich die Augen wieder auf und sah den Fremden oben, heil, nur an der      Hand blutend. Er rief mir einige scherzhafte Worte zu, er meinte, ich habe, von seiner Wunde      erschreckt, geschrieen. Ich aber hatte gesehen, daß ich zur Mörderin hätte werden können. So      geschah auf dem Felsen statt des Wunders, das der Betrug ersonnen hatte, ein andres, und ich      leerte den Becher, welchen mir der Fremde reichte, auf meine Besserung. Ich kehrte verwandelt,      mit einem Herzen voll Dornen, fest in dem Entschlüsse, mich nicht ferner zu dergleichen      Gaukeleien herzugeben, nach meiner Wohnung zurück. Nun aber sollte ich erfahren, was es heiße,      in den Schlingen des Lasters gefangen zu sein.</p><lb/>
          <p>Tief in der Nacht kam mein Begleiter zu mir und kündigte mir an, daß jener angebliche      Gelehrte mich schlafend zu sehen wünsche, und daß ich mich bereit halten möge, am folgenden      Vormittag somnambül zu sein. Ich weigerte mich und erklärte ihm, daß ich nie wieder diese Rolle      spielen würde. Es erfolgte eine heftige Scene zwischen uns, er bat, befahl, drohte, ich      wider-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0104] liches Bild. Ich sah bis auf den Grund der Spalte, ich sah den Fremden da unten liegen, ganz zerschmettert und von Blut überströmt, nach mir hinauf starrte sein gebrochnes und sterbendes Auge. Alsobald that meine Seele, wie durch eine ungeheure Kraft bezwungen, ein unfreiwilliges Gelübde. Alles dieses, was ich damals sah und erlebte, war wie ein Blitz, der vorüber ist, ehe man fragen kann: woher kommst du? Ich schlug sogleich die Augen wieder auf und sah den Fremden oben, heil, nur an der Hand blutend. Er rief mir einige scherzhafte Worte zu, er meinte, ich habe, von seiner Wunde erschreckt, geschrieen. Ich aber hatte gesehen, daß ich zur Mörderin hätte werden können. So geschah auf dem Felsen statt des Wunders, das der Betrug ersonnen hatte, ein andres, und ich leerte den Becher, welchen mir der Fremde reichte, auf meine Besserung. Ich kehrte verwandelt, mit einem Herzen voll Dornen, fest in dem Entschlüsse, mich nicht ferner zu dergleichen Gaukeleien herzugeben, nach meiner Wohnung zurück. Nun aber sollte ich erfahren, was es heiße, in den Schlingen des Lasters gefangen zu sein. Tief in der Nacht kam mein Begleiter zu mir und kündigte mir an, daß jener angebliche Gelehrte mich schlafend zu sehen wünsche, und daß ich mich bereit halten möge, am folgenden Vormittag somnambül zu sein. Ich weigerte mich und erklärte ihm, daß ich nie wieder diese Rolle spielen würde. Es erfolgte eine heftige Scene zwischen uns, er bat, befahl, drohte, ich wider-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:19:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:19:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/104
Zitationshilfe: Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/104>, abgerufen am 17.05.2024.