durch den Mund bis in den Schlund einzuführen, und ihm durch dieselbe eine hinreichende Menge von kräftiger Fleischbrühe einzu¬ flößen, um ihn gegen den Hungertod zu schützen. Es kränkte ihn tief, daß auf diese Weise sein Vorsatz, bis zur Aussöhnung seiner Geschwister zu fasten, vereitelt wurde, ja er glaubte selbst darin einen neuen Angriff des Teufels, welcher ihm überall mit Gewalt entgegentrat, erblicken zu müssen; indeß theils meinte er, wie Christus viele Leiden und Anfechtungen erdulden zu müssen, theils tröstete er sich, daß die erzwungene Uebertretung seiner ver¬ meintlichen Pflicht ihm nicht zur Schuld angerechnet werden könne, da ihm die Nahrung aufgedrungen werde. Immer noch mit der Vorstellung von dem nahen Untergange Berlins beschäftigt, glaubte er in der nächsten Nacht Feuerlärm zu hören, welches ihm die Furcht einflößte, daß auch die Charite bald von den Flammen werde ergriffen werden, weshalb er inbrünstig zu Gott um Erret¬ tung der Kranken flehte, damit dieselben nicht unvorbereitet den Tod der Sünder im Feuer stürben, und der ewigen Verdammniß anheimfielen. Uebrigens fand er sich bald in seine neue Lage, überzeugt, daß dieselbe eine Schickung von Gott sei.
Nachdem durch hinreichende Beobachtung sein Gemüthslei¬ den bestätigt worden war, erfolgte seine Versetzung in die Irren¬ abtheilung, woselbst er ganz in sich gekehrt und höchst wortkarg nur sehr mangelhafte, einsylbige Antworten gab, durch welche blos das eigentliche Motiv seiner immer noch hartnäckigen Weige¬ rung, Speisen zu genießen, ermittelt werden konnte. Es mußte natürlich mit dem Einflößen von Fleischbrühe durch eine elastische Röhre in den nächsten Tagen fortgefahren werden; als ihm in¬ deß die Nachricht gebracht wurde, daß seine Familie zum gemein¬ samen Genuß des Abendmahls bewogen, und dadurch ihre Ver¬ söhnung zu Stande gebracht worden sei, glaubte er sein Gelübde treu erfüllt, dadurch die Erhörung seines Gebets von Gott er¬ langt zu haben, und fing daher an, freiwillig die ihm dargebo¬ tenen Speisen zu genießen, obgleich er immer noch einen Wider¬ willen dagegen empfand. Ungeachtet meiner dringendsten Ge¬ genvorstellungen nahm sein Vater, nicht unwahrscheinlich aus Ei¬ gennutz, ihn zu sich zurück, und gestattete ihm, schon nach we¬ nigen Tagen wieder in seine früheren Verhältnisse zurückzutreten. Mehrere Tage arbeitete er auch wirklich recht eifrig, indeß die häu¬
durch den Mund bis in den Schlund einzufuͤhren, und ihm durch dieſelbe eine hinreichende Menge von kraͤftiger Fleiſchbruͤhe einzu¬ floͤßen, um ihn gegen den Hungertod zu ſchuͤtzen. Es kraͤnkte ihn tief, daß auf dieſe Weiſe ſein Vorſatz, bis zur Ausſoͤhnung ſeiner Geſchwiſter zu faſten, vereitelt wurde, ja er glaubte ſelbſt darin einen neuen Angriff des Teufels, welcher ihm uͤberall mit Gewalt entgegentrat, erblicken zu muͤſſen; indeß theils meinte er, wie Chriſtus viele Leiden und Anfechtungen erdulden zu muͤſſen, theils troͤſtete er ſich, daß die erzwungene Uebertretung ſeiner ver¬ meintlichen Pflicht ihm nicht zur Schuld angerechnet werden koͤnne, da ihm die Nahrung aufgedrungen werde. Immer noch mit der Vorſtellung von dem nahen Untergange Berlins beſchaͤftigt, glaubte er in der naͤchſten Nacht Feuerlaͤrm zu hoͤren, welches ihm die Furcht einfloͤßte, daß auch die Charité bald von den Flammen werde ergriffen werden, weshalb er inbruͤnſtig zu Gott um Erret¬ tung der Kranken flehte, damit dieſelben nicht unvorbereitet den Tod der Suͤnder im Feuer ſtuͤrben, und der ewigen Verdammniß anheimfielen. Uebrigens fand er ſich bald in ſeine neue Lage, uͤberzeugt, daß dieſelbe eine Schickung von Gott ſei.
Nachdem durch hinreichende Beobachtung ſein Gemuͤthslei¬ den beſtaͤtigt worden war, erfolgte ſeine Verſetzung in die Irren¬ abtheilung, woſelbſt er ganz in ſich gekehrt und hoͤchſt wortkarg nur ſehr mangelhafte, einſylbige Antworten gab, durch welche blos das eigentliche Motiv ſeiner immer noch hartnaͤckigen Weige¬ rung, Speiſen zu genießen, ermittelt werden konnte. Es mußte natuͤrlich mit dem Einfloͤßen von Fleiſchbruͤhe durch eine elaſtiſche Roͤhre in den naͤchſten Tagen fortgefahren werden; als ihm in¬ deß die Nachricht gebracht wurde, daß ſeine Familie zum gemein¬ ſamen Genuß des Abendmahls bewogen, und dadurch ihre Ver¬ ſoͤhnung zu Stande gebracht worden ſei, glaubte er ſein Geluͤbde treu erfuͤllt, dadurch die Erhoͤrung ſeines Gebets von Gott er¬ langt zu haben, und fing daher an, freiwillig die ihm dargebo¬ tenen Speiſen zu genießen, obgleich er immer noch einen Wider¬ willen dagegen empfand. Ungeachtet meiner dringendſten Ge¬ genvorſtellungen nahm ſein Vater, nicht unwahrſcheinlich aus Ei¬ gennutz, ihn zu ſich zuruͤck, und geſtattete ihm, ſchon nach we¬ nigen Tagen wieder in ſeine fruͤheren Verhaͤltniſſe zuruͤckzutreten. Mehrere Tage arbeitete er auch wirklich recht eifrig, indeß die haͤu¬
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durch den Mund bis in den Schlund einzufuͤhren, und ihm durch
dieſelbe eine hinreichende Menge von kraͤftiger Fleiſchbruͤhe einzu¬
floͤßen, um ihn gegen den Hungertod zu ſchuͤtzen. Es kraͤnkte
ihn tief, daß auf dieſe Weiſe ſein Vorſatz, bis zur Ausſoͤhnung
ſeiner Geſchwiſter zu faſten, vereitelt wurde, ja er glaubte ſelbſt
darin einen neuen Angriff des Teufels, welcher ihm uͤberall mit
Gewalt entgegentrat, erblicken zu muͤſſen; indeß theils meinte er,
wie Chriſtus viele Leiden und Anfechtungen erdulden zu muͤſſen,
theils troͤſtete er ſich, daß die erzwungene Uebertretung ſeiner ver¬
meintlichen Pflicht ihm nicht zur Schuld angerechnet werden koͤnne,
da ihm die Nahrung aufgedrungen werde. Immer noch mit der
Vorſtellung von dem nahen Untergange Berlins beſchaͤftigt,
glaubte er in der naͤchſten Nacht Feuerlaͤrm zu hoͤren, welches ihm
die Furcht einfloͤßte, daß auch die Charité bald von den Flammen
werde ergriffen werden, weshalb er inbruͤnſtig zu Gott um Erret¬
tung der Kranken flehte, damit dieſelben nicht unvorbereitet den
Tod der Suͤnder im Feuer ſtuͤrben, und der ewigen Verdammniß
anheimfielen. Uebrigens fand er ſich bald in ſeine neue Lage,
uͤberzeugt, daß dieſelbe eine Schickung von Gott ſei.
Nachdem durch hinreichende Beobachtung ſein Gemuͤthslei¬
den beſtaͤtigt worden war, erfolgte ſeine Verſetzung in die Irren¬
abtheilung, woſelbſt er ganz in ſich gekehrt und hoͤchſt wortkarg
nur ſehr mangelhafte, einſylbige Antworten gab, durch welche
blos das eigentliche Motiv ſeiner immer noch hartnaͤckigen Weige¬
rung, Speiſen zu genießen, ermittelt werden konnte. Es mußte
natuͤrlich mit dem Einfloͤßen von Fleiſchbruͤhe durch eine elaſtiſche
Roͤhre in den naͤchſten Tagen fortgefahren werden; als ihm in¬
deß die Nachricht gebracht wurde, daß ſeine Familie zum gemein¬
ſamen Genuß des Abendmahls bewogen, und dadurch ihre Ver¬
ſoͤhnung zu Stande gebracht worden ſei, glaubte er ſein Geluͤbde
treu erfuͤllt, dadurch die Erhoͤrung ſeines Gebets von Gott er¬
langt zu haben, und fing daher an, freiwillig die ihm dargebo¬
tenen Speiſen zu genießen, obgleich er immer noch einen Wider¬
willen dagegen empfand. Ungeachtet meiner dringendſten Ge¬
genvorſtellungen nahm ſein Vater, nicht unwahrſcheinlich aus Ei¬
gennutz, ihn zu ſich zuruͤck, und geſtattete ihm, ſchon nach we¬
nigen Tagen wieder in ſeine fruͤheren Verhaͤltniſſe zuruͤckzutreten.
Mehrere Tage arbeitete er auch wirklich recht eifrig, indeß die haͤu¬
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/45>, abgerufen am 16.02.2025.
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