mangelt, mit welcher sie sich einer ihnen gegebenen verderb¬ lichen Richtung eigenmächtig entreißen könnten; dann bringt er jene gänzliche Verdumpfung des religiösen Bewußtseins her¬ vor, welche eben so leicht einerseits in zerstörende Leidenschaf¬ ten umschlagen, als andrerseits einen völligen Geistestod zur Folge haben kann. Da die Religion die höchste Vergeistigung des Menschen zu ihrem wesentlichsten Zwecke hat, so verlieren ihre Lehren völlig ihre ursprüngliche Bedeutung, wenn sie die¬ sem Zwecke geradezu entgegenarbeiten, und weit entfernt, noch das Entwickelungsprincip der Seele darzustellen, begünstigen sie ein üppiges Wuchern sinnlicher Begierden und selbstsüchtiger Leidenschaften, welche die Erfahrung noch immer als unzer¬ trennliche Begleiter des Obscurantismus kennen gelehrt hat. Wollen wir auch nicht das Zeugniß der Kirchengeschichte auf¬ rufen, so brauchen wir nur an die Tagesblätter der Gegen¬ wart zu erinnern, welche unzählige Male die grausenerregen¬ den Folgen eines irre geleiteten frommen Eifers in den man¬ nigfachsten Thatsachen geschildert, und dadurch einen Schatten auf die heilverkündende religiöse Aufregung unsrer Tage ge¬ worfen haben.
Nun sind auch die psychischen Aerzte wesentlich dabei be¬ theiligt, die eigentlichen Bedingungen zu erforschen, unter de¬ nen jene beklagenswerthen Verirrungen zu Tage kamen. Denn es genügt dabei keineswegs, einzelne Ursachen derselben her¬ vorzuheben, z. B. den mystisch zelotischen Charakter der all¬ zusehr gehäuften Andachtsübungen, die Versäumniß strenger Pflichterfüllung in einem bequem beschaulichen Leben, die Er¬ schlaffung des Charakters in Ueppigkeit, weil das unerträgliche Gefühl der Blasirtheit den stärksten Antrieb zu einem schwär¬ merischen Rausche frömmelnder Einbildungskraft geben kann, oder andrerseits das Erlahmen aller Gemüthskräfte unter dem fortdauernden Druck schwerer Leiden und harter Entbehrungen, die Verzweiflung eines schuldbeladenen, oder die grundlose Selbst¬ peinigung eines allzu zarten Gewissens, Ueberbildung oder Rohheit des Geistes u. s. w. Die Kenntniß dieser und un¬ zähliger anderer Ursachen der religiösen Verirrungen erklärt noch keinesweges vollständig ihren wahren Ursprung, weil die¬ ser in der Regel ein Zusammentreffen vielfacher ungünstiger
mangelt, mit welcher ſie ſich einer ihnen gegebenen verderb¬ lichen Richtung eigenmaͤchtig entreißen koͤnnten; dann bringt er jene gaͤnzliche Verdumpfung des religioͤſen Bewußtſeins her¬ vor, welche eben ſo leicht einerſeits in zerſtoͤrende Leidenſchaf¬ ten umſchlagen, als andrerſeits einen voͤlligen Geiſtestod zur Folge haben kann. Da die Religion die hoͤchſte Vergeiſtigung des Menſchen zu ihrem weſentlichſten Zwecke hat, ſo verlieren ihre Lehren voͤllig ihre urſpruͤngliche Bedeutung, wenn ſie die¬ ſem Zwecke geradezu entgegenarbeiten, und weit entfernt, noch das Entwickelungsprincip der Seele darzuſtellen, beguͤnſtigen ſie ein uͤppiges Wuchern ſinnlicher Begierden und ſelbſtſuͤchtiger Leidenſchaften, welche die Erfahrung noch immer als unzer¬ trennliche Begleiter des Obſcurantismus kennen gelehrt hat. Wollen wir auch nicht das Zeugniß der Kirchengeſchichte auf¬ rufen, ſo brauchen wir nur an die Tagesblaͤtter der Gegen¬ wart zu erinnern, welche unzaͤhlige Male die grauſenerregen¬ den Folgen eines irre geleiteten frommen Eifers in den man¬ nigfachſten Thatſachen geſchildert, und dadurch einen Schatten auf die heilverkuͤndende religioͤſe Aufregung unſrer Tage ge¬ worfen haben.
Nun ſind auch die pſychiſchen Aerzte weſentlich dabei be¬ theiligt, die eigentlichen Bedingungen zu erforſchen, unter de¬ nen jene beklagenswerthen Verirrungen zu Tage kamen. Denn es genuͤgt dabei keineswegs, einzelne Urſachen derſelben her¬ vorzuheben, z. B. den myſtiſch zelotiſchen Charakter der all¬ zuſehr gehaͤuften Andachtsuͤbungen, die Verſaͤumniß ſtrenger Pflichterfuͤllung in einem bequem beſchaulichen Leben, die Er¬ ſchlaffung des Charakters in Ueppigkeit, weil das unertraͤgliche Gefuͤhl der Blaſirtheit den ſtaͤrkſten Antrieb zu einem ſchwaͤr¬ meriſchen Rauſche froͤmmelnder Einbildungskraft geben kann, oder andrerſeits das Erlahmen aller Gemuͤthskraͤfte unter dem fortdauernden Druck ſchwerer Leiden und harter Entbehrungen, die Verzweiflung eines ſchuldbeladenen, oder die grundloſe Selbſt¬ peinigung eines allzu zarten Gewiſſens, Ueberbildung oder Rohheit des Geiſtes u. ſ. w. Die Kenntniß dieſer und un¬ zaͤhliger anderer Urſachen der religioͤſen Verirrungen erklaͤrt noch keinesweges vollſtaͤndig ihren wahren Urſprung, weil die¬ ſer in der Regel ein Zuſammentreffen vielfacher unguͤnſtiger
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mangelt, mit welcher ſie ſich einer ihnen gegebenen verderb¬
lichen Richtung eigenmaͤchtig entreißen koͤnnten; dann bringt
er jene gaͤnzliche Verdumpfung des religioͤſen Bewußtſeins her¬
vor, welche eben ſo leicht einerſeits in zerſtoͤrende Leidenſchaf¬
ten umſchlagen, als andrerſeits einen voͤlligen Geiſtestod zur
Folge haben kann. Da die Religion die hoͤchſte Vergeiſtigung
des Menſchen zu ihrem weſentlichſten Zwecke hat, ſo verlieren
ihre Lehren voͤllig ihre urſpruͤngliche Bedeutung, wenn ſie die¬
ſem Zwecke geradezu entgegenarbeiten, und weit entfernt, noch
das Entwickelungsprincip der Seele darzuſtellen, beguͤnſtigen ſie
ein uͤppiges Wuchern ſinnlicher Begierden und ſelbſtſuͤchtiger
Leidenſchaften, welche die Erfahrung noch immer als unzer¬
trennliche Begleiter des Obſcurantismus kennen gelehrt hat.
Wollen wir auch nicht das Zeugniß der Kirchengeſchichte auf¬
rufen, ſo brauchen wir nur an die Tagesblaͤtter der Gegen¬
wart zu erinnern, welche unzaͤhlige Male die grauſenerregen¬
den Folgen eines irre geleiteten frommen Eifers in den man¬
nigfachſten Thatſachen geſchildert, und dadurch einen Schatten
auf die heilverkuͤndende religioͤſe Aufregung unſrer Tage ge¬
worfen haben.
Nun ſind auch die pſychiſchen Aerzte weſentlich dabei be¬
theiligt, die eigentlichen Bedingungen zu erforſchen, unter de¬
nen jene beklagenswerthen Verirrungen zu Tage kamen. Denn
es genuͤgt dabei keineswegs, einzelne Urſachen derſelben her¬
vorzuheben, z. B. den myſtiſch zelotiſchen Charakter der all¬
zuſehr gehaͤuften Andachtsuͤbungen, die Verſaͤumniß ſtrenger
Pflichterfuͤllung in einem bequem beſchaulichen Leben, die Er¬
ſchlaffung des Charakters in Ueppigkeit, weil das unertraͤgliche
Gefuͤhl der Blaſirtheit den ſtaͤrkſten Antrieb zu einem ſchwaͤr¬
meriſchen Rauſche froͤmmelnder Einbildungskraft geben kann,
oder andrerſeits das Erlahmen aller Gemuͤthskraͤfte unter dem
fortdauernden Druck ſchwerer Leiden und harter Entbehrungen,
die Verzweiflung eines ſchuldbeladenen, oder die grundloſe Selbſt¬
peinigung eines allzu zarten Gewiſſens, Ueberbildung oder
Rohheit des Geiſtes u. ſ. w. Die Kenntniß dieſer und un¬
zaͤhliger anderer Urſachen der religioͤſen Verirrungen erklaͤrt
noch keinesweges vollſtaͤndig ihren wahren Urſprung, weil die¬
ſer in der Regel ein Zuſammentreffen vielfacher unguͤnſtiger
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/26>, abgerufen am 05.07.2024.
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