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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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spräche mit großer Empfänglichkeit eingegangen sein, und da¬
bei eine lebendige Erregtheit des Geistes gezeigt haben, so daß
der Prediger dadurch bewogen wurde, in ihm den Wunsch,
Theologie zu studiren, zu erwecken, wozu er ihm nicht un¬
wahrscheinlich behülflich gewesen sein würde. Indeß dieser
Wunsch scheiterte vielleicht weniger an der Armuth des Va¬
ters, als an seiner Abneigung gegen den geistlichen Stand,
über welchen er sich mit frivolen Worten äußerte.

Die Gemüthsentwickelung des G. nahm daher frühzeitig
eine so entschieden religiöse Richtung, daß er stets ernst ge¬
stimmt, für die kindlichen Spiele allen Sinn verlor, sich von
seinen Altersgenossen fern hielt, und von ihnen mit Hohn
und Spott verfolgt wurde. Sie kränkten ihn hierdurch oft
in einem solchen Grade, daß er, zur Gegenwehr unfähig, und
seinen Schmerz in sich verschließend, zuweilen Anfälle von
epileptischen Krämpfen erlitt, welche auch in späteren Ver¬
hältnissen gelegentlich nach Gemüthsbewegungen sich einstellten,
indeß während der letzten Jahre nicht mehr erschienen sind.
Sie waren jedesmal nur von kurzer Dauer, und die nach ih¬
nen zurückbleibende Ermattung verschwand schon nach einigen
Stunden. Er besuchte fleißig die Kirche, nahm als Chorknabe
eifrig an den liturgischen Gesängen Theil, und sowohl der
Gottesdienst, als der Religionsunterricht und die Gespräche mit
dem Geistlichen durchdrangen ihn mit einer tiefen Freudigkeit,
welche ihn immer begieriger nach frommen Herzensergießungen
machte. Nicht wenig wurde diese Gemüthserregung dadurch
befördert, daß er seine Heilung von mehreren Krankheiten erst
nach wiederholten Gebeten fand. Zuerst erlitt er im 8. Jahre
eine Geschwulst unter der Zunge, welche ein halbes Jahr fort¬
dauerte, und zuletzt eine solche Größe erreichte, daß er den
Mund nicht mehr schließen, und nur noch mit Mühe etwas
Flüssiges schlucken konnte. Die von Aerzten angerathene Ope¬
ration wurde von der Mutter verworfen, welche auf den Rath
eines Nachbarn an drei auf einander folgenden Freitagen die
Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und heiligen Geistes
aussprach, worauf die Geschwulst bald verschwunden sein soll.
Im 14. Jahre zog G. sich durch mechanische Verletzung eine
Augenentzündung zu, welche ihn längere Zeit des Sehvermö¬

ſpraͤche mit großer Empfaͤnglichkeit eingegangen ſein, und da¬
bei eine lebendige Erregtheit des Geiſtes gezeigt haben, ſo daß
der Prediger dadurch bewogen wurde, in ihm den Wunſch,
Theologie zu ſtudiren, zu erwecken, wozu er ihm nicht un¬
wahrſcheinlich behuͤlflich geweſen ſein wuͤrde. Indeß dieſer
Wunſch ſcheiterte vielleicht weniger an der Armuth des Va¬
ters, als an ſeiner Abneigung gegen den geiſtlichen Stand,
uͤber welchen er ſich mit frivolen Worten aͤußerte.

Die Gemuͤthsentwickelung des G. nahm daher fruͤhzeitig
eine ſo entſchieden religioͤſe Richtung, daß er ſtets ernſt ge¬
ſtimmt, fuͤr die kindlichen Spiele allen Sinn verlor, ſich von
ſeinen Altersgenoſſen fern hielt, und von ihnen mit Hohn
und Spott verfolgt wurde. Sie kraͤnkten ihn hierdurch oft
in einem ſolchen Grade, daß er, zur Gegenwehr unfaͤhig, und
ſeinen Schmerz in ſich verſchließend, zuweilen Anfaͤlle von
epileptiſchen Kraͤmpfen erlitt, welche auch in ſpaͤteren Ver¬
haͤltniſſen gelegentlich nach Gemuͤthsbewegungen ſich einſtellten,
indeß waͤhrend der letzten Jahre nicht mehr erſchienen ſind.
Sie waren jedesmal nur von kurzer Dauer, und die nach ih¬
nen zuruͤckbleibende Ermattung verſchwand ſchon nach einigen
Stunden. Er beſuchte fleißig die Kirche, nahm als Chorknabe
eifrig an den liturgiſchen Geſaͤngen Theil, und ſowohl der
Gottesdienſt, als der Religionsunterricht und die Geſpraͤche mit
dem Geiſtlichen durchdrangen ihn mit einer tiefen Freudigkeit,
welche ihn immer begieriger nach frommen Herzensergießungen
machte. Nicht wenig wurde dieſe Gemuͤthserregung dadurch
befoͤrdert, daß er ſeine Heilung von mehreren Krankheiten erſt
nach wiederholten Gebeten fand. Zuerſt erlitt er im 8. Jahre
eine Geſchwulſt unter der Zunge, welche ein halbes Jahr fort¬
dauerte, und zuletzt eine ſolche Groͤße erreichte, daß er den
Mund nicht mehr ſchließen, und nur noch mit Muͤhe etwas
Fluͤſſiges ſchlucken konnte. Die von Aerzten angerathene Ope¬
ration wurde von der Mutter verworfen, welche auf den Rath
eines Nachbarn an drei auf einander folgenden Freitagen die
Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und heiligen Geiſtes
ausſprach, worauf die Geſchwulſt bald verſchwunden ſein ſoll.
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[185/0193] ſpraͤche mit großer Empfaͤnglichkeit eingegangen ſein, und da¬ bei eine lebendige Erregtheit des Geiſtes gezeigt haben, ſo daß der Prediger dadurch bewogen wurde, in ihm den Wunſch, Theologie zu ſtudiren, zu erwecken, wozu er ihm nicht un¬ wahrſcheinlich behuͤlflich geweſen ſein wuͤrde. Indeß dieſer Wunſch ſcheiterte vielleicht weniger an der Armuth des Va¬ ters, als an ſeiner Abneigung gegen den geiſtlichen Stand, uͤber welchen er ſich mit frivolen Worten aͤußerte. Die Gemuͤthsentwickelung des G. nahm daher fruͤhzeitig eine ſo entſchieden religioͤſe Richtung, daß er ſtets ernſt ge¬ ſtimmt, fuͤr die kindlichen Spiele allen Sinn verlor, ſich von ſeinen Altersgenoſſen fern hielt, und von ihnen mit Hohn und Spott verfolgt wurde. Sie kraͤnkten ihn hierdurch oft in einem ſolchen Grade, daß er, zur Gegenwehr unfaͤhig, und ſeinen Schmerz in ſich verſchließend, zuweilen Anfaͤlle von epileptiſchen Kraͤmpfen erlitt, welche auch in ſpaͤteren Ver¬ haͤltniſſen gelegentlich nach Gemuͤthsbewegungen ſich einſtellten, indeß waͤhrend der letzten Jahre nicht mehr erſchienen ſind. Sie waren jedesmal nur von kurzer Dauer, und die nach ih¬ nen zuruͤckbleibende Ermattung verſchwand ſchon nach einigen Stunden. Er beſuchte fleißig die Kirche, nahm als Chorknabe eifrig an den liturgiſchen Geſaͤngen Theil, und ſowohl der Gottesdienſt, als der Religionsunterricht und die Geſpraͤche mit dem Geiſtlichen durchdrangen ihn mit einer tiefen Freudigkeit, welche ihn immer begieriger nach frommen Herzensergießungen machte. Nicht wenig wurde dieſe Gemuͤthserregung dadurch befoͤrdert, daß er ſeine Heilung von mehreren Krankheiten erſt nach wiederholten Gebeten fand. Zuerſt erlitt er im 8. Jahre eine Geſchwulſt unter der Zunge, welche ein halbes Jahr fort¬ dauerte, und zuletzt eine ſolche Groͤße erreichte, daß er den Mund nicht mehr ſchließen, und nur noch mit Muͤhe etwas Fluͤſſiges ſchlucken konnte. Die von Aerzten angerathene Ope¬ ration wurde von der Mutter verworfen, welche auf den Rath eines Nachbarn an drei auf einander folgenden Freitagen die Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und heiligen Geiſtes ausſprach, worauf die Geſchwulſt bald verſchwunden ſein ſoll. Im 14. Jahre zog G. ſich durch mechaniſche Verletzung eine Augenentzuͤndung zu, welche ihn laͤngere Zeit des Sehvermoͤ¬

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/193>, abgerufen am 28.04.2024.