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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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Umständen; indeß seine Gesinnung hatte schon einen so entschiede¬
nen ascetischen Charakter angenommen, daß er wegen seiner zur
Schau getragenen Frömmigkeit oft genug von Anderen verspottet
wurde, welche er deshalb für Weltkinder hielt, mit denen an
öffentlichen Vergnügungsorten zusammenzutreffen ihm als Sünde
erschien. Gerade diese Denkweise hatte ihn einem Kaufmanne sehr
empfohlen, welcher eifrigen Andachtsübungen ergeben, in seinem
Hause pietistische Conventikel hielt, und in unserm E. ein sehr
geeignetes Mitglied derselben zu finden glaubte. Er nahm ihn daher
in sein Haus auf, beschäftigte ihn nur mit leichten Arbeiten, und
entließ ihn erst nach zwei Jahren, worauf er wegen großer Kurz¬
sichtigkeit für die meisten Gewerbe untauglich, bei einem Pfropfen¬
schneider in die Lehre trat. Natürlich fand die bei ihm schon vor¬
herrschende Frömmigkeit in den bei jenem Kaufmanne wöchentlich
mehrere Male abgehaltenen Conventikeln eine überreiche Nahrung,
um so mehr, als in denselben eifrig auf die Erweckung einer
streng orthodoxen Gläubigkeit hingearbeitet wurde. Die Anwe¬
senden, deren Zahl sich gewöhnlich auf 20 -- 30 belief, mußten
nicht nur beim Gebete niederknieen, sondern sich auch zur fleißi¬
gen Theilnahme an diesen Andachtsübungen verpflichten, so daß
sie ihr gelegentliches Ausbleiben zu entschuldigen genöthigt wa¬
ren. Daher bezogen sich auch die Bibelerklärungen vornämlich
auf die Pflicht eines inbrünstigen Gottesdienstes, um gegen die
Weltsünden möglichst geschützt zu werden, und da auch außerdem
in der Familie des Kaufmanns ein strenger Ernst waltete, wel¬
cher außer den Morgen- und Abendandachten kaum vertrauliche
Mittheilungen der Mitglieder gestattete, so begreift es sich leicht,
welchen Eindruck alles dies auf das weiche, passive Gemüth un¬
sers E. machen mußte.

Hieraus erklärt es besonders, daß er zur Theilnahme
an den gottesdienstlichen Versammlungen der Altlutheraner
eingeladen, durch sie in eine tiefe Erschütterung versetzt wurde.
Der in den Predigten herrschende fanatische Geist wirkte auf
ihn um so mächtiger, als auch einige Mitglieder jener Secte
in Privatgesprächen ihn zu überzeugen suchten, daß die ewige
Seeligkeit durch den Besuch der evangelischen Kirchen verscherzt
werde, weil diese eine wahre Verfolgung gegen den wahren

Umſtaͤnden; indeß ſeine Geſinnung hatte ſchon einen ſo entſchiede¬
nen ascetiſchen Charakter angenommen, daß er wegen ſeiner zur
Schau getragenen Froͤmmigkeit oft genug von Anderen verſpottet
wurde, welche er deshalb fuͤr Weltkinder hielt, mit denen an
oͤffentlichen Vergnuͤgungsorten zuſammenzutreffen ihm als Suͤnde
erſchien. Gerade dieſe Denkweiſe hatte ihn einem Kaufmanne ſehr
empfohlen, welcher eifrigen Andachtsuͤbungen ergeben, in ſeinem
Hauſe pietiſtiſche Conventikel hielt, und in unſerm E. ein ſehr
geeignetes Mitglied derſelben zu finden glaubte. Er nahm ihn daher
in ſein Haus auf, beſchaͤftigte ihn nur mit leichten Arbeiten, und
entließ ihn erſt nach zwei Jahren, worauf er wegen großer Kurz¬
ſichtigkeit fuͤr die meiſten Gewerbe untauglich, bei einem Pfropfen¬
ſchneider in die Lehre trat. Natuͤrlich fand die bei ihm ſchon vor¬
herrſchende Froͤmmigkeit in den bei jenem Kaufmanne woͤchentlich
mehrere Male abgehaltenen Conventikeln eine uͤberreiche Nahrung,
um ſo mehr, als in denſelben eifrig auf die Erweckung einer
ſtreng orthodoxen Glaͤubigkeit hingearbeitet wurde. Die Anwe¬
ſenden, deren Zahl ſich gewoͤhnlich auf 20 — 30 belief, mußten
nicht nur beim Gebete niederknieen, ſondern ſich auch zur fleißi¬
gen Theilnahme an dieſen Andachtsuͤbungen verpflichten, ſo daß
ſie ihr gelegentliches Ausbleiben zu entſchuldigen genoͤthigt wa¬
ren. Daher bezogen ſich auch die Bibelerklaͤrungen vornaͤmlich
auf die Pflicht eines inbruͤnſtigen Gottesdienſtes, um gegen die
Weltſuͤnden moͤglichſt geſchuͤtzt zu werden, und da auch außerdem
in der Familie des Kaufmanns ein ſtrenger Ernſt waltete, wel¬
cher außer den Morgen- und Abendandachten kaum vertrauliche
Mittheilungen der Mitglieder geſtattete, ſo begreift es ſich leicht,
welchen Eindruck alles dies auf das weiche, paſſive Gemuͤth un¬
ſers E. machen mußte.

Hieraus erklaͤrt es beſonders, daß er zur Theilnahme
an den gottesdienſtlichen Verſammlungen der Altlutheraner
eingeladen, durch ſie in eine tiefe Erſchuͤtterung verſetzt wurde.
Der in den Predigten herrſchende fanatiſche Geiſt wirkte auf
ihn um ſo maͤchtiger, als auch einige Mitglieder jener Secte
in Privatgeſpraͤchen ihn zu uͤberzeugen ſuchten, daß die ewige
Seeligkeit durch den Beſuch der evangeliſchen Kirchen verſcherzt
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[172/0180] Umſtaͤnden; indeß ſeine Geſinnung hatte ſchon einen ſo entſchiede¬ nen ascetiſchen Charakter angenommen, daß er wegen ſeiner zur Schau getragenen Froͤmmigkeit oft genug von Anderen verſpottet wurde, welche er deshalb fuͤr Weltkinder hielt, mit denen an oͤffentlichen Vergnuͤgungsorten zuſammenzutreffen ihm als Suͤnde erſchien. Gerade dieſe Denkweiſe hatte ihn einem Kaufmanne ſehr empfohlen, welcher eifrigen Andachtsuͤbungen ergeben, in ſeinem Hauſe pietiſtiſche Conventikel hielt, und in unſerm E. ein ſehr geeignetes Mitglied derſelben zu finden glaubte. Er nahm ihn daher in ſein Haus auf, beſchaͤftigte ihn nur mit leichten Arbeiten, und entließ ihn erſt nach zwei Jahren, worauf er wegen großer Kurz¬ ſichtigkeit fuͤr die meiſten Gewerbe untauglich, bei einem Pfropfen¬ ſchneider in die Lehre trat. Natuͤrlich fand die bei ihm ſchon vor¬ herrſchende Froͤmmigkeit in den bei jenem Kaufmanne woͤchentlich mehrere Male abgehaltenen Conventikeln eine uͤberreiche Nahrung, um ſo mehr, als in denſelben eifrig auf die Erweckung einer ſtreng orthodoxen Glaͤubigkeit hingearbeitet wurde. Die Anwe¬ ſenden, deren Zahl ſich gewoͤhnlich auf 20 — 30 belief, mußten nicht nur beim Gebete niederknieen, ſondern ſich auch zur fleißi¬ gen Theilnahme an dieſen Andachtsuͤbungen verpflichten, ſo daß ſie ihr gelegentliches Ausbleiben zu entſchuldigen genoͤthigt wa¬ ren. Daher bezogen ſich auch die Bibelerklaͤrungen vornaͤmlich auf die Pflicht eines inbruͤnſtigen Gottesdienſtes, um gegen die Weltſuͤnden moͤglichſt geſchuͤtzt zu werden, und da auch außerdem in der Familie des Kaufmanns ein ſtrenger Ernſt waltete, wel¬ cher außer den Morgen- und Abendandachten kaum vertrauliche Mittheilungen der Mitglieder geſtattete, ſo begreift es ſich leicht, welchen Eindruck alles dies auf das weiche, paſſive Gemuͤth un¬ ſers E. machen mußte. Hieraus erklaͤrt es beſonders, daß er zur Theilnahme an den gottesdienſtlichen Verſammlungen der Altlutheraner eingeladen, durch ſie in eine tiefe Erſchuͤtterung verſetzt wurde. Der in den Predigten herrſchende fanatiſche Geiſt wirkte auf ihn um ſo maͤchtiger, als auch einige Mitglieder jener Secte in Privatgeſpraͤchen ihn zu uͤberzeugen ſuchten, daß die ewige Seeligkeit durch den Beſuch der evangeliſchen Kirchen verſcherzt werde, weil dieſe eine wahre Verfolgung gegen den wahren

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/180>, abgerufen am 27.04.2024.