Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

Unterrichtsstunden mit so gutem Erfolge Theil nehmen, daß
ihre Wiedergenesung im Laufe der nächsten Monate einen unge¬
störten Fortgang zu nehmen schien. Sie betrug sich ruhig, an¬
ständig, war sehr fleißig und ordnungsliebend, und beantwortete
alle Fragen verständig, namentlich sah sie es deutlich ein, daß
sie Jahre lang einer verderblichen religiösen Schwärmerei ergeben
gewesen sei.

Aber ihr Seelenleiden hätte minder schwer gewesen sein
müssen, wenn das Gleichgewicht ihres Gemüths nach völliger
Ueberwindung ihrer mystischen Leidenschaft schon dauernd hätte
wiederhergestellt sein sollen. Der alte finstere Geist war nur
zurückgescheucht, nicht vertrieben, und wenn er sich auch nicht
in seiner früheren Gestalt wieder zeigte, so regte er die Kranke
doch schon gegen Ende Aprils zu einer neuen Unruhe an, wel¬
che die Klarheit ihres Bewußtseins trübte. Ob sie es nicht
wagte, die früheren religiösen Wahnvorstellungen wieder laut
werden zu lassen, nachdem sie selbst oft genug ein mißbilli¬
gendes Urtheil über dieselben ausgesprochen hatte, oder ob das
Gefühl eines körperlichen Mißbehagens vorzugsweise ihre Auf¬
merksamkeit in Anspruch nahm, muß dahin gestellt bleiben;
genug sie sprach nur den Wahn aus, daß ihr Körper kleiner
und dicker geworden sei, worüber sie sich sehr ängstigte. Es
erschien daher angemessen, eine kräftige Reaction ihres Nerven¬
lebens durch die Douche hervorzurufen, um aus ihrer körper¬
lichen Empfindung die seltsame Täuschung zu verbannen, wel¬
che jenem Wahn zum Grunde lag; jedoch dauerte es bis zum
Anfange des Juni, ehe sie ihre Heiterkeit und Klarheit wie¬
dererlangte, so daß sie nun selbst ihre bisherigen Irrthümer
einsah, und nicht begreifen konnte, wie sie in dieselben ver¬
fallen sei.

Auch diesmal sollte die Freude über den scheinbar gün¬
stigen Erfolg nicht lange dauern, denn schon vom 10. Juni an
erschien die H. auffallend stille und träumerisch, und wenige
Tage später war sie wieder in den früheren Zustand zurückge¬
fallen. Von unsäglicher Angst getrieben lief sie händeringend
umher behauptete die schwersten Sünden und Verbrechen be¬
gangen zu haben, und wurde unablässig von der Vorstellung
gequält, daß sie hingerichtet werden solle. Die nochmalige An¬

11 *

Unterrichtsſtunden mit ſo gutem Erfolge Theil nehmen, daß
ihre Wiedergeneſung im Laufe der naͤchſten Monate einen unge¬
ſtoͤrten Fortgang zu nehmen ſchien. Sie betrug ſich ruhig, an¬
ſtaͤndig, war ſehr fleißig und ordnungsliebend, und beantwortete
alle Fragen verſtaͤndig, namentlich ſah ſie es deutlich ein, daß
ſie Jahre lang einer verderblichen religioͤſen Schwaͤrmerei ergeben
geweſen ſei.

Aber ihr Seelenleiden haͤtte minder ſchwer geweſen ſein
muͤſſen, wenn das Gleichgewicht ihres Gemuͤths nach voͤlliger
Ueberwindung ihrer myſtiſchen Leidenſchaft ſchon dauernd haͤtte
wiederhergeſtellt ſein ſollen. Der alte finſtere Geiſt war nur
zuruͤckgeſcheucht, nicht vertrieben, und wenn er ſich auch nicht
in ſeiner fruͤheren Geſtalt wieder zeigte, ſo regte er die Kranke
doch ſchon gegen Ende Aprils zu einer neuen Unruhe an, wel¬
che die Klarheit ihres Bewußtſeins truͤbte. Ob ſie es nicht
wagte, die fruͤheren religioͤſen Wahnvorſtellungen wieder laut
werden zu laſſen, nachdem ſie ſelbſt oft genug ein mißbilli¬
gendes Urtheil uͤber dieſelben ausgeſprochen hatte, oder ob das
Gefuͤhl eines koͤrperlichen Mißbehagens vorzugsweiſe ihre Auf¬
merkſamkeit in Anſpruch nahm, muß dahin geſtellt bleiben;
genug ſie ſprach nur den Wahn aus, daß ihr Koͤrper kleiner
und dicker geworden ſei, woruͤber ſie ſich ſehr aͤngſtigte. Es
erſchien daher angemeſſen, eine kraͤftige Reaction ihres Nerven¬
lebens durch die Douche hervorzurufen, um aus ihrer koͤrper¬
lichen Empfindung die ſeltſame Taͤuſchung zu verbannen, wel¬
che jenem Wahn zum Grunde lag; jedoch dauerte es bis zum
Anfange des Juni, ehe ſie ihre Heiterkeit und Klarheit wie¬
dererlangte, ſo daß ſie nun ſelbſt ihre bisherigen Irrthuͤmer
einſah, und nicht begreifen konnte, wie ſie in dieſelben ver¬
fallen ſei.

Auch diesmal ſollte die Freude uͤber den ſcheinbar guͤn¬
ſtigen Erfolg nicht lange dauern, denn ſchon vom 10. Juni an
erſchien die H. auffallend ſtille und traͤumeriſch, und wenige
Tage ſpaͤter war ſie wieder in den fruͤheren Zuſtand zuruͤckge¬
fallen. Von unſaͤglicher Angſt getrieben lief ſie haͤnderingend
umher behauptete die ſchwerſten Suͤnden und Verbrechen be¬
gangen zu haben, und wurde unablaͤſſig von der Vorſtellung
gequaͤlt, daß ſie hingerichtet werden ſolle. Die nochmalige An¬

11 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0171" n="163"/>
Unterrichts&#x017F;tunden mit &#x017F;o gutem Erfolge Theil nehmen, daß<lb/>
ihre Wiedergene&#x017F;ung im Laufe der na&#x0364;ch&#x017F;ten Monate einen unge¬<lb/>
&#x017F;to&#x0364;rten Fortgang zu nehmen &#x017F;chien. Sie betrug &#x017F;ich ruhig, an¬<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndig, war &#x017F;ehr fleißig und ordnungsliebend, und beantwortete<lb/>
alle Fragen ver&#x017F;ta&#x0364;ndig, namentlich &#x017F;ah &#x017F;ie es deutlich ein, daß<lb/>
&#x017F;ie Jahre lang einer verderblichen religio&#x0364;&#x017F;en Schwa&#x0364;rmerei ergeben<lb/>
gewe&#x017F;en &#x017F;ei.</p><lb/>
        <p>Aber ihr Seelenleiden ha&#x0364;tte minder &#x017F;chwer gewe&#x017F;en &#x017F;ein<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, wenn das Gleichgewicht ihres Gemu&#x0364;ths nach vo&#x0364;lliger<lb/>
Ueberwindung ihrer my&#x017F;ti&#x017F;chen Leiden&#x017F;chaft &#x017F;chon dauernd ha&#x0364;tte<lb/>
wiederherge&#x017F;tellt &#x017F;ein &#x017F;ollen. Der alte fin&#x017F;tere Gei&#x017F;t war nur<lb/>
zuru&#x0364;ckge&#x017F;cheucht, nicht vertrieben, und wenn er &#x017F;ich auch nicht<lb/>
in &#x017F;einer fru&#x0364;heren Ge&#x017F;talt wieder zeigte, &#x017F;o regte er die Kranke<lb/>
doch &#x017F;chon gegen Ende Aprils zu einer neuen Unruhe an, wel¬<lb/>
che die Klarheit ihres Bewußt&#x017F;eins tru&#x0364;bte. Ob &#x017F;ie es nicht<lb/>
wagte, die fru&#x0364;heren religio&#x0364;&#x017F;en Wahnvor&#x017F;tellungen wieder laut<lb/>
werden zu la&#x017F;&#x017F;en, nachdem &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t oft genug ein mißbilli¬<lb/>
gendes Urtheil u&#x0364;ber die&#x017F;elben ausge&#x017F;prochen hatte, oder ob das<lb/>
Gefu&#x0364;hl eines ko&#x0364;rperlichen Mißbehagens vorzugswei&#x017F;e ihre Auf¬<lb/>
merk&#x017F;amkeit in An&#x017F;pruch nahm, muß dahin ge&#x017F;tellt bleiben;<lb/>
genug &#x017F;ie &#x017F;prach nur den Wahn aus, daß ihr Ko&#x0364;rper kleiner<lb/>
und dicker geworden &#x017F;ei, woru&#x0364;ber &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;ehr a&#x0364;ng&#x017F;tigte. Es<lb/>
er&#x017F;chien daher angeme&#x017F;&#x017F;en, eine kra&#x0364;ftige Reaction ihres Nerven¬<lb/>
lebens durch die Douche hervorzurufen, um aus ihrer ko&#x0364;rper¬<lb/>
lichen Empfindung die &#x017F;elt&#x017F;ame Ta&#x0364;u&#x017F;chung zu verbannen, wel¬<lb/>
che jenem Wahn zum Grunde lag; jedoch dauerte es bis zum<lb/>
Anfange des Juni, ehe &#x017F;ie ihre Heiterkeit und Klarheit wie¬<lb/>
dererlangte, &#x017F;o daß &#x017F;ie nun &#x017F;elb&#x017F;t ihre bisherigen Irrthu&#x0364;mer<lb/>
ein&#x017F;ah, und nicht begreifen konnte, wie &#x017F;ie in die&#x017F;elben ver¬<lb/>
fallen &#x017F;ei.</p><lb/>
        <p>Auch diesmal &#x017F;ollte die Freude u&#x0364;ber den &#x017F;cheinbar gu&#x0364;<lb/>
&#x017F;tigen Erfolg nicht lange dauern, denn &#x017F;chon vom 10. Juni an<lb/>
er&#x017F;chien die H. auffallend &#x017F;tille und tra&#x0364;umeri&#x017F;ch, und wenige<lb/>
Tage &#x017F;pa&#x0364;ter war &#x017F;ie wieder in den fru&#x0364;heren Zu&#x017F;tand zuru&#x0364;ckge¬<lb/>
fallen. Von un&#x017F;a&#x0364;glicher Ang&#x017F;t getrieben lief &#x017F;ie ha&#x0364;nderingend<lb/>
umher behauptete die &#x017F;chwer&#x017F;ten Su&#x0364;nden und Verbrechen be¬<lb/>
gangen zu haben, und wurde unabla&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig von der Vor&#x017F;tellung<lb/>
gequa&#x0364;lt, daß &#x017F;ie hingerichtet werden &#x017F;olle. Die nochmalige An¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">11 *<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[163/0171] Unterrichtsſtunden mit ſo gutem Erfolge Theil nehmen, daß ihre Wiedergeneſung im Laufe der naͤchſten Monate einen unge¬ ſtoͤrten Fortgang zu nehmen ſchien. Sie betrug ſich ruhig, an¬ ſtaͤndig, war ſehr fleißig und ordnungsliebend, und beantwortete alle Fragen verſtaͤndig, namentlich ſah ſie es deutlich ein, daß ſie Jahre lang einer verderblichen religioͤſen Schwaͤrmerei ergeben geweſen ſei. Aber ihr Seelenleiden haͤtte minder ſchwer geweſen ſein muͤſſen, wenn das Gleichgewicht ihres Gemuͤths nach voͤlliger Ueberwindung ihrer myſtiſchen Leidenſchaft ſchon dauernd haͤtte wiederhergeſtellt ſein ſollen. Der alte finſtere Geiſt war nur zuruͤckgeſcheucht, nicht vertrieben, und wenn er ſich auch nicht in ſeiner fruͤheren Geſtalt wieder zeigte, ſo regte er die Kranke doch ſchon gegen Ende Aprils zu einer neuen Unruhe an, wel¬ che die Klarheit ihres Bewußtſeins truͤbte. Ob ſie es nicht wagte, die fruͤheren religioͤſen Wahnvorſtellungen wieder laut werden zu laſſen, nachdem ſie ſelbſt oft genug ein mißbilli¬ gendes Urtheil uͤber dieſelben ausgeſprochen hatte, oder ob das Gefuͤhl eines koͤrperlichen Mißbehagens vorzugsweiſe ihre Auf¬ merkſamkeit in Anſpruch nahm, muß dahin geſtellt bleiben; genug ſie ſprach nur den Wahn aus, daß ihr Koͤrper kleiner und dicker geworden ſei, woruͤber ſie ſich ſehr aͤngſtigte. Es erſchien daher angemeſſen, eine kraͤftige Reaction ihres Nerven¬ lebens durch die Douche hervorzurufen, um aus ihrer koͤrper¬ lichen Empfindung die ſeltſame Taͤuſchung zu verbannen, wel¬ che jenem Wahn zum Grunde lag; jedoch dauerte es bis zum Anfange des Juni, ehe ſie ihre Heiterkeit und Klarheit wie¬ dererlangte, ſo daß ſie nun ſelbſt ihre bisherigen Irrthuͤmer einſah, und nicht begreifen konnte, wie ſie in dieſelben ver¬ fallen ſei. Auch diesmal ſollte die Freude uͤber den ſcheinbar guͤn¬ ſtigen Erfolg nicht lange dauern, denn ſchon vom 10. Juni an erſchien die H. auffallend ſtille und traͤumeriſch, und wenige Tage ſpaͤter war ſie wieder in den fruͤheren Zuſtand zuruͤckge¬ fallen. Von unſaͤglicher Angſt getrieben lief ſie haͤnderingend umher behauptete die ſchwerſten Suͤnden und Verbrechen be¬ gangen zu haben, und wurde unablaͤſſig von der Vorſtellung gequaͤlt, daß ſie hingerichtet werden ſolle. Die nochmalige An¬ 11 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/171
Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/171>, abgerufen am 27.04.2024.