Sie war als Kind immer gesund, zeigte aber nicht die dem früheren Lebensalter natürliche Munterkeit, sondern hielt sich still und zurückgezogen, so daß sie selten zu den fröhlichen Spielen jener glücklichen Zeit aufgelegt war. Vom 6 --15. Jahre besuchte sie die Töchterschule der Stadt, woselbst sie außer den Elementarkenntnissen noch Unterricht in der Ge¬ schichte und Geographie erhielt, über welche Gegenstände sie viele schriftliche Aufsätze anfertigen mußte. Da ihre Verstan¬ deskräfte nur sehr mittelmäßig waren, so kostete ihr diese Ar¬ beit eine große Anstrengung, welche wie eine große Pein auf ihr lastete, und ihren Sinn schüchtern und verlegen machte. Nach erfolgter Einsegnung nahm sie an den Wirthschaftsge¬ schäften Theil, oder verrichtete weibliche Arbeiten, und die Ein¬ förmigkeit ihres stillen Fleißes wurde fast niemals durch ge¬ sellige Vergnügungen unterbrochen, zu denen sie schon wegen der Passivität ihres Gemüths so wenig aufgelegt war, daß sie ihrer Versicherung zufolge niemals tanzte. Da sie von den Aeltern liebevoll behandelt wurde, und sich auch bei rasch fort¬ schreitender Entwickelung (sie war schon im 15. Jahre völlig ausgewachsen, und ihre Menstruation kehrte seitdem regel¬ mäßig und ohne alle Beschwerden wieder) immer wohl be¬ fand; so läßt diese Indolenz allerdings auf eine geringe Be¬ gabung mit Geist und Gemüth zurückschließen. Nun ist es allerdings wahr, daß unzählige solche Individuen ihren Lebens¬ gang ohne große Störungen zurücklegen, ja eben wegen ihrer Apathie gegen tiefere Erschütterungen geschützt bleiben, von denen reicher begabte Naturen so oft getroffen werden; aber andrer¬ seits muß eine solche Indolenz in sofern als eine geistige Krank¬ heitsanlage angesehen werden, weil sie schlimmen Ereignissen nicht die Widerstandskraft eines energischen Charakters entge¬ gensetzen kann, zumal wenn Leiden lange auf dem Gemüth lasten, und dasselbe gleichsam erdrücken. An vielfachen Gele¬ genheiten dazu sollte es der H. nicht fehlen, denn auch bei ihr machte die Natur ihr Gesetz geltend, nach welchem das Weib zur Liebe geschaffen ist, auf welche Verzicht zu leisten, ohne den Frieden des Herzens anhaltend zu verlieren, für dasselbe eine der schwersten Aufgaben ist. Die unbedeutende Persön¬ lichkeit der H. hatte ihr keinen Geliebten erwerben können,
Sie war als Kind immer geſund, zeigte aber nicht die dem fruͤheren Lebensalter natuͤrliche Munterkeit, ſondern hielt ſich ſtill und zuruͤckgezogen, ſo daß ſie ſelten zu den froͤhlichen Spielen jener gluͤcklichen Zeit aufgelegt war. Vom 6 —15. Jahre beſuchte ſie die Toͤchterſchule der Stadt, woſelbſt ſie außer den Elementarkenntniſſen noch Unterricht in der Ge¬ ſchichte und Geographie erhielt, uͤber welche Gegenſtaͤnde ſie viele ſchriftliche Aufſaͤtze anfertigen mußte. Da ihre Verſtan¬ deskraͤfte nur ſehr mittelmaͤßig waren, ſo koſtete ihr dieſe Ar¬ beit eine große Anſtrengung, welche wie eine große Pein auf ihr laſtete, und ihren Sinn ſchuͤchtern und verlegen machte. Nach erfolgter Einſegnung nahm ſie an den Wirthſchaftsge¬ ſchaͤften Theil, oder verrichtete weibliche Arbeiten, und die Ein¬ foͤrmigkeit ihres ſtillen Fleißes wurde faſt niemals durch ge¬ ſellige Vergnuͤgungen unterbrochen, zu denen ſie ſchon wegen der Paſſivitaͤt ihres Gemuͤths ſo wenig aufgelegt war, daß ſie ihrer Verſicherung zufolge niemals tanzte. Da ſie von den Aeltern liebevoll behandelt wurde, und ſich auch bei raſch fort¬ ſchreitender Entwickelung (ſie war ſchon im 15. Jahre voͤllig ausgewachſen, und ihre Menſtruation kehrte ſeitdem regel¬ maͤßig und ohne alle Beſchwerden wieder) immer wohl be¬ fand; ſo laͤßt dieſe Indolenz allerdings auf eine geringe Be¬ gabung mit Geiſt und Gemuͤth zuruͤckſchließen. Nun iſt es allerdings wahr, daß unzaͤhlige ſolche Individuen ihren Lebens¬ gang ohne große Stoͤrungen zuruͤcklegen, ja eben wegen ihrer Apathie gegen tiefere Erſchuͤtterungen geſchuͤtzt bleiben, von denen reicher begabte Naturen ſo oft getroffen werden; aber andrer¬ ſeits muß eine ſolche Indolenz in ſofern als eine geiſtige Krank¬ heitsanlage angeſehen werden, weil ſie ſchlimmen Ereigniſſen nicht die Widerſtandskraft eines energiſchen Charakters entge¬ genſetzen kann, zumal wenn Leiden lange auf dem Gemuͤth laſten, und daſſelbe gleichſam erdruͤcken. An vielfachen Gele¬ genheiten dazu ſollte es der H. nicht fehlen, denn auch bei ihr machte die Natur ihr Geſetz geltend, nach welchem das Weib zur Liebe geſchaffen iſt, auf welche Verzicht zu leiſten, ohne den Frieden des Herzens anhaltend zu verlieren, fuͤr daſſelbe eine der ſchwerſten Aufgaben iſt. Die unbedeutende Perſoͤn¬ lichkeit der H. hatte ihr keinen Geliebten erwerben koͤnnen,
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Sie war als Kind immer geſund, zeigte aber nicht die dem
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Spielen jener gluͤcklichen Zeit aufgelegt war. Vom 6 —15.
Jahre beſuchte ſie die Toͤchterſchule der Stadt, woſelbſt ſie
außer den Elementarkenntniſſen noch Unterricht in der Ge¬
ſchichte und Geographie erhielt, uͤber welche Gegenſtaͤnde ſie
viele ſchriftliche Aufſaͤtze anfertigen mußte. Da ihre Verſtan¬
deskraͤfte nur ſehr mittelmaͤßig waren, ſo koſtete ihr dieſe Ar¬
beit eine große Anſtrengung, welche wie eine große Pein auf
ihr laſtete, und ihren Sinn ſchuͤchtern und verlegen machte.
Nach erfolgter Einſegnung nahm ſie an den Wirthſchaftsge¬
ſchaͤften Theil, oder verrichtete weibliche Arbeiten, und die Ein¬
foͤrmigkeit ihres ſtillen Fleißes wurde faſt niemals durch ge¬
ſellige Vergnuͤgungen unterbrochen, zu denen ſie ſchon wegen
der Paſſivitaͤt ihres Gemuͤths ſo wenig aufgelegt war, daß ſie
ihrer Verſicherung zufolge niemals tanzte. Da ſie von den
Aeltern liebevoll behandelt wurde, und ſich auch bei raſch fort¬
ſchreitender Entwickelung (ſie war ſchon im 15. Jahre voͤllig
ausgewachſen, und ihre Menſtruation kehrte ſeitdem regel¬
maͤßig und ohne alle Beſchwerden wieder) immer wohl be¬
fand; ſo laͤßt dieſe Indolenz allerdings auf eine geringe Be¬
gabung mit Geiſt und Gemuͤth zuruͤckſchließen. Nun iſt es
allerdings wahr, daß unzaͤhlige ſolche Individuen ihren Lebens¬
gang ohne große Stoͤrungen zuruͤcklegen, ja eben wegen ihrer
Apathie gegen tiefere Erſchuͤtterungen geſchuͤtzt bleiben, von denen
reicher begabte Naturen ſo oft getroffen werden; aber andrer¬
ſeits muß eine ſolche Indolenz in ſofern als eine geiſtige Krank¬
heitsanlage angeſehen werden, weil ſie ſchlimmen Ereigniſſen
nicht die Widerſtandskraft eines energiſchen Charakters entge¬
genſetzen kann, zumal wenn Leiden lange auf dem Gemuͤth
laſten, und daſſelbe gleichſam erdruͤcken. An vielfachen Gele¬
genheiten dazu ſollte es der H. nicht fehlen, denn auch bei ihr
machte die Natur ihr Geſetz geltend, nach welchem das Weib
zur Liebe geſchaffen iſt, auf welche Verzicht zu leiſten, ohne
den Frieden des Herzens anhaltend zu verlieren, fuͤr daſſelbe
eine der ſchwerſten Aufgaben iſt. Die unbedeutende Perſoͤn¬
lichkeit der H. hatte ihr keinen Geliebten erwerben koͤnnen,
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/161>, abgerufen am 05.07.2024.
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