Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.zeitweiligen Befriedigung seiner Wünsche rastlos weiter treibt, zeitweiligen Befriedigung ſeiner Wuͤnſche raſtlos weiter treibt, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0014" n="6"/> zeitweiligen Befriedigung ſeiner Wuͤnſche raſtlos weiter treibt,<lb/> und ſelbſt am Grabesrande uͤber die Todesnacht in die Ewig¬<lb/> keit ſich hinuͤberſchwingend eben deshalb in ſich die Buͤrgſchaft<lb/> der Unſterblichkeit traͤgt. Jenes Streben regt ſich um ſo maͤch¬<lb/> tiger, je harmoniſcher der Menſch in allen ſeinen Seelenkraͤf¬<lb/> ten durchgebildet, je mehr er in ihnen zur hoͤchſten Energie<lb/> und Selbſtaͤndigkeit erſtarkt iſt, daher die ſatte Befriedigung<lb/> aller Wuͤnſche als das ſicherſte Kennzeichen eines veroͤdeten,<lb/> erſchoͤpften, blaſirten Geiſtes anzuſehen iſt. Alle Wuͤnſche<lb/> entſpringen aus beſtimmten Neigungen, welche dem Menſchen<lb/> angeboren, ihm den Antrieb zu ihrer Befriedigung geben, in<lb/> deren Ermanglung ſie eben die Sehnſucht erzeugen, deren<lb/> ſcharfer Sporn ihn nicht raſten laͤßt, bis er mit verdoppelter<lb/> Kraft ihr Ziel erreicht hat. Indem nun ſeinen Wuͤnſchen<lb/> zahlloſe Hinderniſſe der Außenwelt entgegentreten, iſt ſein<lb/> Leben ein ſteter Kampf mit denſelben, durch welchen er zu<lb/> immer hoͤheren Kraftaͤußerungen erſtarken ſoll, in denen wie¬<lb/> derum ſeine Neigungen maͤchtiger hervortreten, um das Ziel<lb/> ſeiner neu erwachenden Sehnſucht weiter hinaus zu ſtecken, ſo<lb/> daß eben in dieſem ſteten Wechſel von errungener Befriedi¬<lb/> gung und den aus ihr mit verſtaͤrkter Kraft auftauchenden<lb/> Wuͤnſchen der eigentliche Entwickelungsproceß des ins Unend¬<lb/> liche fortſchreitenden Seelenlebens enthalten iſt. Dieſer natur¬<lb/> gemaͤße Bildungsgang deſſelben ſetzt aber zwei Bedingungen<lb/> nothwendig voraus, zunaͤchſt eine moͤglichſt große Ausbreitung<lb/> des objectiven Denkens, naͤmlich der erfahrungsmaͤßigen Er¬<lb/> kenntniß von dem Verhaͤltniß des Menſchen zur Außenwelt,<lb/> widrigenfalls er nicht die Mittel zur Erfuͤllung ſeines Zwecks<lb/> richtig auswaͤhlen und ergreifen kann, und zweitens ein we¬<lb/> nigſtens relatives Gleichgewicht aller Neigungen, dergeſtalt daß<lb/> ſie insgeſammt den Antrieb zu ihrer Befriedigung geben koͤn¬<lb/> nen. Denn herrſcht irgend eine Neigung in einem ſolchen<lb/> Grade vor, daß ſie in Leidenſchaft entartend die uͤbrigen zu<lb/> unterdruͤcken ſtrebt, um ihr Intereſſe allein im Bewußtſein<lb/> geltend zu machen, und ihm daſſelbe als das ausſchließliche<lb/> Geſetz aller Beſtrebungen vorzuſchreiben; ſo zwingt ſie dadurch<lb/> den Menſchen, ihr das Opfer aller uͤbrigen Neigungen zu<lb/> bringen, und dadurch ſeine Wohlfahrt zu Grunde zu richten,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [6/0014]
zeitweiligen Befriedigung ſeiner Wuͤnſche raſtlos weiter treibt,
und ſelbſt am Grabesrande uͤber die Todesnacht in die Ewig¬
keit ſich hinuͤberſchwingend eben deshalb in ſich die Buͤrgſchaft
der Unſterblichkeit traͤgt. Jenes Streben regt ſich um ſo maͤch¬
tiger, je harmoniſcher der Menſch in allen ſeinen Seelenkraͤf¬
ten durchgebildet, je mehr er in ihnen zur hoͤchſten Energie
und Selbſtaͤndigkeit erſtarkt iſt, daher die ſatte Befriedigung
aller Wuͤnſche als das ſicherſte Kennzeichen eines veroͤdeten,
erſchoͤpften, blaſirten Geiſtes anzuſehen iſt. Alle Wuͤnſche
entſpringen aus beſtimmten Neigungen, welche dem Menſchen
angeboren, ihm den Antrieb zu ihrer Befriedigung geben, in
deren Ermanglung ſie eben die Sehnſucht erzeugen, deren
ſcharfer Sporn ihn nicht raſten laͤßt, bis er mit verdoppelter
Kraft ihr Ziel erreicht hat. Indem nun ſeinen Wuͤnſchen
zahlloſe Hinderniſſe der Außenwelt entgegentreten, iſt ſein
Leben ein ſteter Kampf mit denſelben, durch welchen er zu
immer hoͤheren Kraftaͤußerungen erſtarken ſoll, in denen wie¬
derum ſeine Neigungen maͤchtiger hervortreten, um das Ziel
ſeiner neu erwachenden Sehnſucht weiter hinaus zu ſtecken, ſo
daß eben in dieſem ſteten Wechſel von errungener Befriedi¬
gung und den aus ihr mit verſtaͤrkter Kraft auftauchenden
Wuͤnſchen der eigentliche Entwickelungsproceß des ins Unend¬
liche fortſchreitenden Seelenlebens enthalten iſt. Dieſer natur¬
gemaͤße Bildungsgang deſſelben ſetzt aber zwei Bedingungen
nothwendig voraus, zunaͤchſt eine moͤglichſt große Ausbreitung
des objectiven Denkens, naͤmlich der erfahrungsmaͤßigen Er¬
kenntniß von dem Verhaͤltniß des Menſchen zur Außenwelt,
widrigenfalls er nicht die Mittel zur Erfuͤllung ſeines Zwecks
richtig auswaͤhlen und ergreifen kann, und zweitens ein we¬
nigſtens relatives Gleichgewicht aller Neigungen, dergeſtalt daß
ſie insgeſammt den Antrieb zu ihrer Befriedigung geben koͤn¬
nen. Denn herrſcht irgend eine Neigung in einem ſolchen
Grade vor, daß ſie in Leidenſchaft entartend die uͤbrigen zu
unterdruͤcken ſtrebt, um ihr Intereſſe allein im Bewußtſein
geltend zu machen, und ihm daſſelbe als das ausſchließliche
Geſetz aller Beſtrebungen vorzuſchreiben; ſo zwingt ſie dadurch
den Menſchen, ihr das Opfer aller uͤbrigen Neigungen zu
bringen, und dadurch ſeine Wohlfahrt zu Grunde zu richten,
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