K., 42 Jahre alt, wurde in Manheim von katholischen Aeltern geboren, erlernte das Zimmerhandwerk, und trat als Geselle eine mehrjährige Wanderschaft an, welche ihn zuletzt nach Berlin führte, woselbst er sich mit einer geschiedenen evan¬ gelischen Frau verheirathete, und mit ihr in einer sehr glück¬ lichen Ehe lebte. Dieser Umstand gab Veranlassung, daß ihm von einem katholischen Geistlichen der Genuß des heiligen Abend¬ mahls verweigert wurde, da seine Ehe nur als Concubinat an¬ zusehen sei; er müsse sich daher von seiner Frau scheiden lassen, wenn er in die Gemeinde der Rechtgläubigen wieder aufgenom¬ men werden wolle. Diese Excommunication belastete ihn eine lange Reihe von Jahren hindurch mit Gewissensscrupeln, da er stets im Kampfe zwischen seinem religiösen Herzensbedürfniß und der innigen Liebe zu seiner braven Frau schwankte; indeß angestrengte Arbeiten, bei denen er sich stets der kräftigsten Gesundheit erfreute, erhielten ihn wenigstens in leidlicher Fas¬ sung, so daß er sich oft seiner quälenden Sorgen entschlagen konnte. Nun faßte er aber in seinem bereits vorgerückten Al¬ ter den Entschluß, das Examen als Zimmermeister abzulegen, um sich eine selbstständige Stellung und dadurch einen reich¬ licheren Erwerb zu verschaffen, weshalb er mehrere Monate Unterricht in der Mathematik, im Zeichnen und in anderen das Baufach betreffenden Gegenständen nahm, um sich für die Prü¬ fung vorzubereiten. Er soll darin gute Fortschritte gemacht ha¬ ben, so daß er sich einen günstigen Erfolg versprechen konnte; indeß der plötzliche Uebergang von den gewohnten körperlichen Arbeiten zu den ihm fremden geistigen Anstrengungen versetzte ihn in eine peinliche Aufregung, welche bald die Besorgniß erzeugte, daß er im Examen nicht bestehen werde. Tief be¬ kümmert über das Scheitern seiner Hoffnungen gerieth er bald in eine völlige Verzweiflung, welche von fieberhaften Erschei¬ nungen begleitet, seine Aufnahme in die Abtheilung der Cha¬ rite für innere Kranke am 12. Mai 1842 nothwendig machte. Er schrie und tobte, klagte sich unverzeihlicher Sünden an, be¬ jammerte das Schicksal seiner durch ihn unglücklich gewordenen
10.
K., 42 Jahre alt, wurde in Manheim von katholiſchen Aeltern geboren, erlernte das Zimmerhandwerk, und trat als Geſelle eine mehrjaͤhrige Wanderſchaft an, welche ihn zuletzt nach Berlin fuͤhrte, woſelbſt er ſich mit einer geſchiedenen evan¬ geliſchen Frau verheirathete, und mit ihr in einer ſehr gluͤck¬ lichen Ehe lebte. Dieſer Umſtand gab Veranlaſſung, daß ihm von einem katholiſchen Geiſtlichen der Genuß des heiligen Abend¬ mahls verweigert wurde, da ſeine Ehe nur als Concubinat an¬ zuſehen ſei; er muͤſſe ſich daher von ſeiner Frau ſcheiden laſſen, wenn er in die Gemeinde der Rechtglaͤubigen wieder aufgenom¬ men werden wolle. Dieſe Excommunication belaſtete ihn eine lange Reihe von Jahren hindurch mit Gewiſſensſcrupeln, da er ſtets im Kampfe zwiſchen ſeinem religioͤſen Herzensbeduͤrfniß und der innigen Liebe zu ſeiner braven Frau ſchwankte; indeß angeſtrengte Arbeiten, bei denen er ſich ſtets der kraͤftigſten Geſundheit erfreute, erhielten ihn wenigſtens in leidlicher Faſ¬ ſung, ſo daß er ſich oft ſeiner quaͤlenden Sorgen entſchlagen konnte. Nun faßte er aber in ſeinem bereits vorgeruͤckten Al¬ ter den Entſchluß, das Examen als Zimmermeiſter abzulegen, um ſich eine ſelbſtſtaͤndige Stellung und dadurch einen reich¬ licheren Erwerb zu verſchaffen, weshalb er mehrere Monate Unterricht in der Mathematik, im Zeichnen und in anderen das Baufach betreffenden Gegenſtaͤnden nahm, um ſich fuͤr die Pruͤ¬ fung vorzubereiten. Er ſoll darin gute Fortſchritte gemacht ha¬ ben, ſo daß er ſich einen guͤnſtigen Erfolg verſprechen konnte; indeß der ploͤtzliche Uebergang von den gewohnten koͤrperlichen Arbeiten zu den ihm fremden geiſtigen Anſtrengungen verſetzte ihn in eine peinliche Aufregung, welche bald die Beſorgniß erzeugte, daß er im Examen nicht beſtehen werde. Tief be¬ kuͤmmert uͤber das Scheitern ſeiner Hoffnungen gerieth er bald in eine voͤllige Verzweiflung, welche von fieberhaften Erſchei¬ nungen begleitet, ſeine Aufnahme in die Abtheilung der Cha¬ rité fuͤr innere Kranke am 12. Mai 1842 nothwendig machte. Er ſchrie und tobte, klagte ſich unverzeihlicher Suͤnden an, be¬ jammerte das Schickſal ſeiner durch ihn ungluͤcklich gewordenen
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0132"n="124"/></div><divn="1"><head>10.<lb/></head><p><hirendition="#b #fr">K</hi><hirendition="#b">.</hi>, 42 Jahre alt, wurde in Manheim von katholiſchen<lb/>
Aeltern geboren, erlernte das Zimmerhandwerk, und trat als<lb/>
Geſelle eine mehrjaͤhrige Wanderſchaft an, welche ihn zuletzt<lb/>
nach Berlin fuͤhrte, woſelbſt er ſich mit einer geſchiedenen evan¬<lb/>
geliſchen Frau verheirathete, und mit ihr in einer ſehr gluͤck¬<lb/>
lichen Ehe lebte. Dieſer Umſtand gab Veranlaſſung, daß ihm<lb/>
von einem katholiſchen Geiſtlichen der Genuß des heiligen Abend¬<lb/>
mahls verweigert wurde, da ſeine Ehe nur als Concubinat an¬<lb/>
zuſehen ſei; er muͤſſe ſich daher von ſeiner Frau ſcheiden laſſen,<lb/>
wenn er in die Gemeinde der Rechtglaͤubigen wieder aufgenom¬<lb/>
men werden wolle. Dieſe Excommunication belaſtete ihn eine<lb/>
lange Reihe von Jahren hindurch mit Gewiſſensſcrupeln, da er<lb/>ſtets im Kampfe zwiſchen ſeinem religioͤſen Herzensbeduͤrfniß<lb/>
und der innigen Liebe zu ſeiner braven Frau ſchwankte; indeß<lb/>
angeſtrengte Arbeiten, bei denen er ſich ſtets der kraͤftigſten<lb/>
Geſundheit erfreute, erhielten ihn wenigſtens in leidlicher Faſ¬<lb/>ſung, ſo daß er ſich oft ſeiner quaͤlenden Sorgen entſchlagen<lb/>
konnte. Nun faßte er aber in ſeinem bereits vorgeruͤckten Al¬<lb/>
ter den Entſchluß, das Examen als Zimmermeiſter abzulegen,<lb/>
um ſich eine ſelbſtſtaͤndige Stellung und dadurch einen reich¬<lb/>
licheren Erwerb zu verſchaffen, weshalb er mehrere Monate<lb/>
Unterricht in der Mathematik, im Zeichnen und in anderen das<lb/>
Baufach betreffenden Gegenſtaͤnden nahm, um ſich fuͤr die Pruͤ¬<lb/>
fung vorzubereiten. Er ſoll darin gute Fortſchritte gemacht ha¬<lb/>
ben, ſo daß er ſich einen guͤnſtigen Erfolg verſprechen konnte;<lb/>
indeß der ploͤtzliche Uebergang von den gewohnten koͤrperlichen<lb/>
Arbeiten zu den ihm fremden geiſtigen Anſtrengungen verſetzte<lb/>
ihn in eine peinliche Aufregung, welche bald die Beſorgniß<lb/>
erzeugte, daß er im Examen nicht beſtehen werde. Tief be¬<lb/>
kuͤmmert uͤber das Scheitern ſeiner Hoffnungen gerieth er bald<lb/>
in eine voͤllige Verzweiflung, welche von fieberhaften Erſchei¬<lb/>
nungen begleitet, ſeine Aufnahme in die Abtheilung der Cha¬<lb/>
rité fuͤr innere Kranke am 12. Mai 1842 nothwendig machte.<lb/>
Er ſchrie und tobte, klagte ſich unverzeihlicher Suͤnden an, be¬<lb/>
jammerte das Schickſal ſeiner durch ihn ungluͤcklich gewordenen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[124/0132]
10.
K., 42 Jahre alt, wurde in Manheim von katholiſchen
Aeltern geboren, erlernte das Zimmerhandwerk, und trat als
Geſelle eine mehrjaͤhrige Wanderſchaft an, welche ihn zuletzt
nach Berlin fuͤhrte, woſelbſt er ſich mit einer geſchiedenen evan¬
geliſchen Frau verheirathete, und mit ihr in einer ſehr gluͤck¬
lichen Ehe lebte. Dieſer Umſtand gab Veranlaſſung, daß ihm
von einem katholiſchen Geiſtlichen der Genuß des heiligen Abend¬
mahls verweigert wurde, da ſeine Ehe nur als Concubinat an¬
zuſehen ſei; er muͤſſe ſich daher von ſeiner Frau ſcheiden laſſen,
wenn er in die Gemeinde der Rechtglaͤubigen wieder aufgenom¬
men werden wolle. Dieſe Excommunication belaſtete ihn eine
lange Reihe von Jahren hindurch mit Gewiſſensſcrupeln, da er
ſtets im Kampfe zwiſchen ſeinem religioͤſen Herzensbeduͤrfniß
und der innigen Liebe zu ſeiner braven Frau ſchwankte; indeß
angeſtrengte Arbeiten, bei denen er ſich ſtets der kraͤftigſten
Geſundheit erfreute, erhielten ihn wenigſtens in leidlicher Faſ¬
ſung, ſo daß er ſich oft ſeiner quaͤlenden Sorgen entſchlagen
konnte. Nun faßte er aber in ſeinem bereits vorgeruͤckten Al¬
ter den Entſchluß, das Examen als Zimmermeiſter abzulegen,
um ſich eine ſelbſtſtaͤndige Stellung und dadurch einen reich¬
licheren Erwerb zu verſchaffen, weshalb er mehrere Monate
Unterricht in der Mathematik, im Zeichnen und in anderen das
Baufach betreffenden Gegenſtaͤnden nahm, um ſich fuͤr die Pruͤ¬
fung vorzubereiten. Er ſoll darin gute Fortſchritte gemacht ha¬
ben, ſo daß er ſich einen guͤnſtigen Erfolg verſprechen konnte;
indeß der ploͤtzliche Uebergang von den gewohnten koͤrperlichen
Arbeiten zu den ihm fremden geiſtigen Anſtrengungen verſetzte
ihn in eine peinliche Aufregung, welche bald die Beſorgniß
erzeugte, daß er im Examen nicht beſtehen werde. Tief be¬
kuͤmmert uͤber das Scheitern ſeiner Hoffnungen gerieth er bald
in eine voͤllige Verzweiflung, welche von fieberhaften Erſchei¬
nungen begleitet, ſeine Aufnahme in die Abtheilung der Cha¬
rité fuͤr innere Kranke am 12. Mai 1842 nothwendig machte.
Er ſchrie und tobte, klagte ſich unverzeihlicher Suͤnden an, be¬
jammerte das Schickſal ſeiner durch ihn ungluͤcklich gewordenen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/132>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.