Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

Auge auf dich bis ans Ende. Wenn die Welt ihr zu viele
Leiden aufbürde, so solle die Strafe nicht ausbleiben. Dann
solle sie auf einer Eisenbahn in den Himmel abgeholt wer¬
den, weil die Boten Gottes wie die schnellste Post im Sturme
daherführen."

Vergebens hatte sie sich also mit der Hoffnung getröstet,
daß durch sie das Menschengeschlecht zu einer neuen Glaubens¬
erkenntniß wiedergeboren werden sollte, daß auf ihren Befehl
eine Menge von Häusern errichtet werden würden, um die
Nothleidenden aufzunehmen; ihre angebotene Liebe wurde ver¬
schmäht, vergebens hatte sie den Menschen zugerufen: "Liebe
Brüder, freut Euch allzumal, das Himmelreich steht Euch of¬
fenbar." Der ersehnte Friede kam nicht, und die Strafe Got¬
tes konnte nicht ausbleiben, nachdem sowohl der russische Kai¬
ser, als der Uhrmacher taub gegen die durch sie verkündigte
göttliche Drohung geblieben waren, daß Donner und Krachen
über sie kommen würden, wenn sie nicht hören wollten. Da
sprach der himmlische Vater zu ihr, sie solle nun nicht mehr
mit Leiden von den Menschen belastet werden, denn sie habe
schon genug gelitten, wobei ihr zugleich verkündigt wurde,
daß im Himmel Gericht über die Sünder gehalten werde.
Etwa ein Jahr später, als sie sich schon in der Charite be¬
fand, offenbarte ihr Gott abermals, daß über das unbußfer¬
tige Menschengeschlecht Gericht gehalten werde, welches sie ei¬
ligst den Aerzten ankündigte, damit nicht die letzte Gnaden¬
zeit zur Bekehrung von den Sündern unbenutzt gelassen
werde. Es wirft ein helles Licht auf ihren Charakter, daß
sie bei dieser Vorstellung nicht von fanatischem Eifer bigotter
Schwärmer ergriffen wurde, welche mit Schadenfreude die
Welt der ewigen Verdammniß, von welcher sie fast allein be¬
freit zu sein überzeugt sind, überliefern, sondern daß sie in
ein wahres Angstgeschrei ausbrach, in Thränen zerfloß, und
mehrere Tage hindurch in trostlosem Jammer über die Mar¬
tern ihrer Brüder wehklagte, welche sie seit Jahr und Tag
vergebens mit Ankündigung des Gerichts aufgefordert hatte, auf
die Kniee zu fallen, und Gott um Vergebung ihrer Sünden
anzuflehen. Händeringend bat sie den lieben Heiland, den
Sündern zu verzeihen, welche nicht wüßten, was sie thäten,

Auge auf dich bis ans Ende. Wenn die Welt ihr zu viele
Leiden aufbuͤrde, ſo ſolle die Strafe nicht ausbleiben. Dann
ſolle ſie auf einer Eiſenbahn in den Himmel abgeholt wer¬
den, weil die Boten Gottes wie die ſchnellſte Poſt im Sturme
daherfuͤhren.”

Vergebens hatte ſie ſich alſo mit der Hoffnung getroͤſtet,
daß durch ſie das Menſchengeſchlecht zu einer neuen Glaubens¬
erkenntniß wiedergeboren werden ſollte, daß auf ihren Befehl
eine Menge von Haͤuſern errichtet werden wuͤrden, um die
Nothleidenden aufzunehmen; ihre angebotene Liebe wurde ver¬
ſchmaͤht, vergebens hatte ſie den Menſchen zugerufen: „Liebe
Bruͤder, freut Euch allzumal, das Himmelreich ſteht Euch of¬
fenbar.” Der erſehnte Friede kam nicht, und die Strafe Got¬
tes konnte nicht ausbleiben, nachdem ſowohl der ruſſiſche Kai¬
ſer, als der Uhrmacher taub gegen die durch ſie verkuͤndigte
goͤttliche Drohung geblieben waren, daß Donner und Krachen
uͤber ſie kommen wuͤrden, wenn ſie nicht hoͤren wollten. Da
ſprach der himmliſche Vater zu ihr, ſie ſolle nun nicht mehr
mit Leiden von den Menſchen belaſtet werden, denn ſie habe
ſchon genug gelitten, wobei ihr zugleich verkuͤndigt wurde,
daß im Himmel Gericht uͤber die Suͤnder gehalten werde.
Etwa ein Jahr ſpaͤter, als ſie ſich ſchon in der Charité be¬
fand, offenbarte ihr Gott abermals, daß uͤber das unbußfer¬
tige Menſchengeſchlecht Gericht gehalten werde, welches ſie ei¬
ligſt den Aerzten ankuͤndigte, damit nicht die letzte Gnaden¬
zeit zur Bekehrung von den Suͤndern unbenutzt gelaſſen
werde. Es wirft ein helles Licht auf ihren Charakter, daß
ſie bei dieſer Vorſtellung nicht von fanatiſchem Eifer bigotter
Schwaͤrmer ergriffen wurde, welche mit Schadenfreude die
Welt der ewigen Verdammniß, von welcher ſie faſt allein be¬
freit zu ſein uͤberzeugt ſind, uͤberliefern, ſondern daß ſie in
ein wahres Angſtgeſchrei ausbrach, in Thraͤnen zerfloß, und
mehrere Tage hindurch in troſtloſem Jammer uͤber die Mar¬
tern ihrer Bruͤder wehklagte, welche ſie ſeit Jahr und Tag
vergebens mit Ankuͤndigung des Gerichts aufgefordert hatte, auf
die Kniee zu fallen, und Gott um Vergebung ihrer Suͤnden
anzuflehen. Haͤnderingend bat ſie den lieben Heiland, den
Suͤndern zu verzeihen, welche nicht wuͤßten, was ſie thaͤten,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0125" n="117"/>
Auge auf dich bis ans Ende. Wenn die Welt ihr zu viele<lb/>
Leiden aufbu&#x0364;rde, &#x017F;o &#x017F;olle die Strafe nicht ausbleiben. Dann<lb/>
&#x017F;olle &#x017F;ie auf einer Ei&#x017F;enbahn in den Himmel abgeholt wer¬<lb/>
den, weil die Boten Gottes wie die &#x017F;chnell&#x017F;te Po&#x017F;t im Sturme<lb/>
daherfu&#x0364;hren.&#x201D;</p><lb/>
        <p>Vergebens hatte &#x017F;ie &#x017F;ich al&#x017F;o mit der Hoffnung getro&#x0364;&#x017F;tet,<lb/>
daß durch &#x017F;ie das Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht zu einer neuen Glaubens¬<lb/>
erkenntniß wiedergeboren werden &#x017F;ollte, daß auf ihren Befehl<lb/>
eine Menge von Ha&#x0364;u&#x017F;ern errichtet werden wu&#x0364;rden, um die<lb/>
Nothleidenden aufzunehmen; ihre angebotene Liebe wurde ver¬<lb/>
&#x017F;chma&#x0364;ht, vergebens hatte &#x017F;ie den Men&#x017F;chen zugerufen: &#x201E;Liebe<lb/>
Bru&#x0364;der, freut Euch allzumal, das Himmelreich &#x017F;teht Euch of¬<lb/>
fenbar.&#x201D; Der er&#x017F;ehnte Friede kam nicht, und die Strafe Got¬<lb/>
tes konnte nicht ausbleiben, nachdem &#x017F;owohl der ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Kai¬<lb/>
&#x017F;er, als der Uhrmacher taub gegen die durch &#x017F;ie verku&#x0364;ndigte<lb/>
go&#x0364;ttliche Drohung geblieben waren, daß Donner und Krachen<lb/>
u&#x0364;ber &#x017F;ie kommen wu&#x0364;rden, wenn &#x017F;ie nicht ho&#x0364;ren wollten. Da<lb/>
&#x017F;prach der himmli&#x017F;che Vater zu ihr, &#x017F;ie &#x017F;olle nun nicht mehr<lb/>
mit Leiden von den Men&#x017F;chen bela&#x017F;tet werden, denn &#x017F;ie habe<lb/>
&#x017F;chon genug gelitten, wobei ihr zugleich verku&#x0364;ndigt wurde,<lb/>
daß im Himmel Gericht u&#x0364;ber die Su&#x0364;nder gehalten werde.<lb/>
Etwa ein Jahr &#x017F;pa&#x0364;ter, als &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;chon in der Charité be¬<lb/>
fand, offenbarte ihr Gott abermals, daß u&#x0364;ber das unbußfer¬<lb/>
tige Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht Gericht gehalten werde, welches &#x017F;ie ei¬<lb/>
lig&#x017F;t den Aerzten anku&#x0364;ndigte, damit nicht die letzte Gnaden¬<lb/>
zeit zur Bekehrung von den Su&#x0364;ndern unbenutzt gela&#x017F;&#x017F;en<lb/>
werde. Es wirft ein helles Licht auf ihren Charakter, daß<lb/>
&#x017F;ie bei die&#x017F;er Vor&#x017F;tellung nicht von fanati&#x017F;chem Eifer bigotter<lb/>
Schwa&#x0364;rmer ergriffen wurde, welche mit Schadenfreude die<lb/>
Welt der ewigen Verdammniß, von welcher &#x017F;ie fa&#x017F;t allein be¬<lb/>
freit zu &#x017F;ein u&#x0364;berzeugt &#x017F;ind, u&#x0364;berliefern, &#x017F;ondern daß &#x017F;ie in<lb/>
ein wahres Ang&#x017F;tge&#x017F;chrei ausbrach, in Thra&#x0364;nen zerfloß, und<lb/>
mehrere Tage hindurch in tro&#x017F;tlo&#x017F;em Jammer u&#x0364;ber die Mar¬<lb/>
tern ihrer Bru&#x0364;der wehklagte, welche &#x017F;ie &#x017F;eit Jahr und Tag<lb/>
vergebens mit Anku&#x0364;ndigung des Gerichts aufgefordert hatte, auf<lb/>
die Kniee zu fallen, und Gott um Vergebung ihrer Su&#x0364;nden<lb/>
anzuflehen. Ha&#x0364;nderingend bat &#x017F;ie den lieben Heiland, den<lb/>
Su&#x0364;ndern zu verzeihen, welche nicht wu&#x0364;ßten, was &#x017F;ie tha&#x0364;ten,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[117/0125] Auge auf dich bis ans Ende. Wenn die Welt ihr zu viele Leiden aufbuͤrde, ſo ſolle die Strafe nicht ausbleiben. Dann ſolle ſie auf einer Eiſenbahn in den Himmel abgeholt wer¬ den, weil die Boten Gottes wie die ſchnellſte Poſt im Sturme daherfuͤhren.” Vergebens hatte ſie ſich alſo mit der Hoffnung getroͤſtet, daß durch ſie das Menſchengeſchlecht zu einer neuen Glaubens¬ erkenntniß wiedergeboren werden ſollte, daß auf ihren Befehl eine Menge von Haͤuſern errichtet werden wuͤrden, um die Nothleidenden aufzunehmen; ihre angebotene Liebe wurde ver¬ ſchmaͤht, vergebens hatte ſie den Menſchen zugerufen: „Liebe Bruͤder, freut Euch allzumal, das Himmelreich ſteht Euch of¬ fenbar.” Der erſehnte Friede kam nicht, und die Strafe Got¬ tes konnte nicht ausbleiben, nachdem ſowohl der ruſſiſche Kai¬ ſer, als der Uhrmacher taub gegen die durch ſie verkuͤndigte goͤttliche Drohung geblieben waren, daß Donner und Krachen uͤber ſie kommen wuͤrden, wenn ſie nicht hoͤren wollten. Da ſprach der himmliſche Vater zu ihr, ſie ſolle nun nicht mehr mit Leiden von den Menſchen belaſtet werden, denn ſie habe ſchon genug gelitten, wobei ihr zugleich verkuͤndigt wurde, daß im Himmel Gericht uͤber die Suͤnder gehalten werde. Etwa ein Jahr ſpaͤter, als ſie ſich ſchon in der Charité be¬ fand, offenbarte ihr Gott abermals, daß uͤber das unbußfer¬ tige Menſchengeſchlecht Gericht gehalten werde, welches ſie ei¬ ligſt den Aerzten ankuͤndigte, damit nicht die letzte Gnaden¬ zeit zur Bekehrung von den Suͤndern unbenutzt gelaſſen werde. Es wirft ein helles Licht auf ihren Charakter, daß ſie bei dieſer Vorſtellung nicht von fanatiſchem Eifer bigotter Schwaͤrmer ergriffen wurde, welche mit Schadenfreude die Welt der ewigen Verdammniß, von welcher ſie faſt allein be¬ freit zu ſein uͤberzeugt ſind, uͤberliefern, ſondern daß ſie in ein wahres Angſtgeſchrei ausbrach, in Thraͤnen zerfloß, und mehrere Tage hindurch in troſtloſem Jammer uͤber die Mar¬ tern ihrer Bruͤder wehklagte, welche ſie ſeit Jahr und Tag vergebens mit Ankuͤndigung des Gerichts aufgefordert hatte, auf die Kniee zu fallen, und Gott um Vergebung ihrer Suͤnden anzuflehen. Haͤnderingend bat ſie den lieben Heiland, den Suͤndern zu verzeihen, welche nicht wuͤßten, was ſie thaͤten,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/125
Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/125>, abgerufen am 02.05.2024.