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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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zufällen behaftet war, so erklärte es sich doch aus dem Ver¬
ein aller dieser ungünstigen Bedingungen, daß sie in der kör¬
perlichen Entwickelung zurückblieb, und nie zur vollen Kraft
gelangte. Sehr gern hätte sie diesen Sklavendienst verlassen;
aber ihre Aeltern kümmerten sich nicht um sie, andere Perso¬
nen noch weniger, und so mußte sie 3 Jahre aushalten, bis
eine in Berlin wohnende Schwester sie zu sich nahm.

Aber auch hier fand sie kaum ein besseres Loos, da
letztere ihr gleichfalls häufig Schläge auf den Kopf gab, und
ihr überhaupt das Leben so verbitterte, daß sie zu einer Witt¬
we zog, bei welcher sie zwar keine Mißhandlungen, aber desto
mehr Hunger zu erleiden hatte. Eben so erging es ihr bei
einem Bäckermeister, welcher sie so karg in Speisen hielt, daß
sie oft genöthigt war, ganz altes und trockenes Brod mit
Wasser aufzuweichen, um dasselbe genießen zu können. Um
diese Zeit zog sie sich durch Erkältung ein heftiges rheumati¬
sches Fieber zu, wobei sie in allen Gliedern dergestalt erstarrte,
daß sie sich kaum regen konnte, eine große Angst und hefti¬
gen Durst empfand, indem sie zugleich durch die Vorstellung
ihrer stets traurigen Lage gepeinigt wurde. Sie flehte daher
in inbrünstigem Gebet Gott um Beistand an, dessen tröstende
Stimme sie in sich zu vernehmen glaubte, welche ihr zurief,
er werde sie nicht verlassen, sondern ihr Hülfe bringen. Je¬
nes Fieber brachte in sofern eine günstige Wirkung in ihr
hervor, als dadurch zum ersten Male die Menstruation her¬
vorgerufen wurde. Vielleicht mischt sich viel Uebertreibung in
die Schilderung ein, welche die F. von ihren überstandenen
Leiden entwirft, da das Selbstbewußtsein der Schwermüthigen
ein trübes Glas ist, durch welches sie ihr vergangenes Leben
in einem falschen Lichte erblicken. Aber es kommt in psycho¬
logischer Beziehung wirklich weniger auf den objectiven That¬
bestand, als auf die Auffassungsweise an, mit welcher der
Mensch sich sein Leben aneignet. Während der starke Cha¬
rakter schwere Schicksale mit ungebeugtem Muth erträgt, und
deshalb ihre Last viel weniger empfindet, erliegt dagegen ein
schwaches Gemüth unter einer weit geringeren Bürde. Genug
die Lebensanschauung der F. verdüsterte sich immer mehr, ver¬
bannte aus ihr jede Hoffnung und Gefühlsfrische, und ließ

zufaͤllen behaftet war, ſo erklaͤrte es ſich doch aus dem Ver¬
ein aller dieſer unguͤnſtigen Bedingungen, daß ſie in der koͤr¬
perlichen Entwickelung zuruͤckblieb, und nie zur vollen Kraft
gelangte. Sehr gern haͤtte ſie dieſen Sklavendienſt verlaſſen;
aber ihre Aeltern kuͤmmerten ſich nicht um ſie, andere Perſo¬
nen noch weniger, und ſo mußte ſie 3 Jahre aushalten, bis
eine in Berlin wohnende Schweſter ſie zu ſich nahm.

Aber auch hier fand ſie kaum ein beſſeres Loos, da
letztere ihr gleichfalls haͤufig Schlaͤge auf den Kopf gab, und
ihr uͤberhaupt das Leben ſo verbitterte, daß ſie zu einer Witt¬
we zog, bei welcher ſie zwar keine Mißhandlungen, aber deſto
mehr Hunger zu erleiden hatte. Eben ſo erging es ihr bei
einem Baͤckermeiſter, welcher ſie ſo karg in Speiſen hielt, daß
ſie oft genoͤthigt war, ganz altes und trockenes Brod mit
Waſſer aufzuweichen, um daſſelbe genießen zu koͤnnen. Um
dieſe Zeit zog ſie ſich durch Erkaͤltung ein heftiges rheumati¬
ſches Fieber zu, wobei ſie in allen Gliedern dergeſtalt erſtarrte,
daß ſie ſich kaum regen konnte, eine große Angſt und hefti¬
gen Durſt empfand, indem ſie zugleich durch die Vorſtellung
ihrer ſtets traurigen Lage gepeinigt wurde. Sie flehte daher
in inbruͤnſtigem Gebet Gott um Beiſtand an, deſſen troͤſtende
Stimme ſie in ſich zu vernehmen glaubte, welche ihr zurief,
er werde ſie nicht verlaſſen, ſondern ihr Huͤlfe bringen. Je¬
nes Fieber brachte in ſofern eine guͤnſtige Wirkung in ihr
hervor, als dadurch zum erſten Male die Menſtruation her¬
vorgerufen wurde. Vielleicht miſcht ſich viel Uebertreibung in
die Schilderung ein, welche die F. von ihren uͤberſtandenen
Leiden entwirft, da das Selbſtbewußtſein der Schwermuͤthigen
ein truͤbes Glas iſt, durch welches ſie ihr vergangenes Leben
in einem falſchen Lichte erblicken. Aber es kommt in pſycho¬
logiſcher Beziehung wirklich weniger auf den objectiven That¬
beſtand, als auf die Auffaſſungsweiſe an, mit welcher der
Menſch ſich ſein Leben aneignet. Waͤhrend der ſtarke Cha¬
rakter ſchwere Schickſale mit ungebeugtem Muth ertraͤgt, und
deshalb ihre Laſt viel weniger empfindet, erliegt dagegen ein
ſchwaches Gemuͤth unter einer weit geringeren Buͤrde. Genug
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bannte aus ihr jede Hoffnung und Gefuͤhlsfriſche, und ließ

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[108/0116] zufaͤllen behaftet war, ſo erklaͤrte es ſich doch aus dem Ver¬ ein aller dieſer unguͤnſtigen Bedingungen, daß ſie in der koͤr¬ perlichen Entwickelung zuruͤckblieb, und nie zur vollen Kraft gelangte. Sehr gern haͤtte ſie dieſen Sklavendienſt verlaſſen; aber ihre Aeltern kuͤmmerten ſich nicht um ſie, andere Perſo¬ nen noch weniger, und ſo mußte ſie 3 Jahre aushalten, bis eine in Berlin wohnende Schweſter ſie zu ſich nahm. Aber auch hier fand ſie kaum ein beſſeres Loos, da letztere ihr gleichfalls haͤufig Schlaͤge auf den Kopf gab, und ihr uͤberhaupt das Leben ſo verbitterte, daß ſie zu einer Witt¬ we zog, bei welcher ſie zwar keine Mißhandlungen, aber deſto mehr Hunger zu erleiden hatte. Eben ſo erging es ihr bei einem Baͤckermeiſter, welcher ſie ſo karg in Speiſen hielt, daß ſie oft genoͤthigt war, ganz altes und trockenes Brod mit Waſſer aufzuweichen, um daſſelbe genießen zu koͤnnen. Um dieſe Zeit zog ſie ſich durch Erkaͤltung ein heftiges rheumati¬ ſches Fieber zu, wobei ſie in allen Gliedern dergeſtalt erſtarrte, daß ſie ſich kaum regen konnte, eine große Angſt und hefti¬ gen Durſt empfand, indem ſie zugleich durch die Vorſtellung ihrer ſtets traurigen Lage gepeinigt wurde. Sie flehte daher in inbruͤnſtigem Gebet Gott um Beiſtand an, deſſen troͤſtende Stimme ſie in ſich zu vernehmen glaubte, welche ihr zurief, er werde ſie nicht verlaſſen, ſondern ihr Huͤlfe bringen. Je¬ nes Fieber brachte in ſofern eine guͤnſtige Wirkung in ihr hervor, als dadurch zum erſten Male die Menſtruation her¬ vorgerufen wurde. Vielleicht miſcht ſich viel Uebertreibung in die Schilderung ein, welche die F. von ihren uͤberſtandenen Leiden entwirft, da das Selbſtbewußtſein der Schwermuͤthigen ein truͤbes Glas iſt, durch welches ſie ihr vergangenes Leben in einem falſchen Lichte erblicken. Aber es kommt in pſycho¬ logiſcher Beziehung wirklich weniger auf den objectiven That¬ beſtand, als auf die Auffaſſungsweiſe an, mit welcher der Menſch ſich ſein Leben aneignet. Waͤhrend der ſtarke Cha¬ rakter ſchwere Schickſale mit ungebeugtem Muth ertraͤgt, und deshalb ihre Laſt viel weniger empfindet, erliegt dagegen ein ſchwaches Gemuͤth unter einer weit geringeren Buͤrde. Genug die Lebensanſchauung der F. verduͤſterte ſich immer mehr, ver¬ bannte aus ihr jede Hoffnung und Gefuͤhlsfriſche, und ließ

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/116>, abgerufen am 02.05.2024.