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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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viel, daß gerade das Edelste im Menschen der sorgfältigsten
Pflege und einer geregelt fortschreitenden Entwickelung bedarf,
wenn nicht die in ihm waltende Kraft zum Verderben ausschla¬
gen soll, da die Weltgeschichte es lehrt, daß unser Geschlecht
fast eben so viel unter dem irre geleiteten Enthusiasmus für
das Gute, Edle und Schöne, als unter dem wilden Drängen
niedriger Begierden zu leiden gehabt hat. Aber in der kranken
Seele konnte doch Nichts zur Erscheinung kommen, was nicht
in der gesunden wenigstens als schlummernder Keim vorhanden
gewesen wäre; und giebt es daher eine Fülle des Schönen,
welches erst durch den Wahnsinn, wenn er die äußere Rinde des
Menschen sprengt, der Seele entlockt werden kann, so werden
wir mit Staunen inne, welche unermeßliche Aufgaben der äch¬
ten Seelenbildung noch vorliegen, an deren Erfüllung bisher
noch Niemand gedacht hat. Bei unsrer M. war freilich keine
dieser Aufgaben zu lösen, denn sie mußte zurückkehren in dienst¬
liche Verhältnisse, welche mit jedem idealen Bewußtsein in ei¬
nem allzuschroffen Widerstreit stehen, als daß derselbe vom
stärksten Gemüth ertragen werden könnte. Für sie durfte es
hinfort keine ideale Liebe, kein Denken über Weltverbesserung,
keine Theilnahme an den höchsten Aufgaben des Menschenge¬
schlechts geben, wenn nicht alle diese Regungen einer höheren
Seelennatur unvermeidlich wieder in Wahnsinn ausarten soll¬
ten. Verschüttet mußte daher geflissentlich jede Quelle bei
ihr werden, aus welcher ein veredeltes Bewußtsein hervorge¬
hen könnte, da dasselbe nur wie ein nachtwandelndes Gespenst
durch ihr späteres Leben gehen würde.

In die Irrenabtheilung der Charite am 9. September
aufgenommen, wurde sie im Gefühl der tiefen Gemüthserschüt¬
terung vorzugsweise von großer Angst gequält, welche immer
der unmittelbare Ausdruck einer aus allen Fugen weichenden
und in regellose Verwilderung gerathenen Seelenthätigkeit ist.
Sie sah, daß einer anderen Kranken zur Ader gelassen wurde,
und bildete sich dabei ein, daß ihr alles Blut abgezapft wer¬
den solle, weshalb sie sich auf die Kniee warf, und Gott an¬
flehte, sie eines sanften Todes sterben zu lassen. In den bei¬
den ersten schlaflosen Nächten empfand sie noch die größte
Sehnsucht nach dem Verstorbenen, von welchem sie aus ihrer

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viel, daß gerade das Edelſte im Menſchen der ſorgfaͤltigſten
Pflege und einer geregelt fortſchreitenden Entwickelung bedarf,
wenn nicht die in ihm waltende Kraft zum Verderben ausſchla¬
gen ſoll, da die Weltgeſchichte es lehrt, daß unſer Geſchlecht
faſt eben ſo viel unter dem irre geleiteten Enthuſiasmus fuͤr
das Gute, Edle und Schoͤne, als unter dem wilden Draͤngen
niedriger Begierden zu leiden gehabt hat. Aber in der kranken
Seele konnte doch Nichts zur Erſcheinung kommen, was nicht
in der geſunden wenigſtens als ſchlummernder Keim vorhanden
geweſen waͤre; und giebt es daher eine Fuͤlle des Schoͤnen,
welches erſt durch den Wahnſinn, wenn er die aͤußere Rinde des
Menſchen ſprengt, der Seele entlockt werden kann, ſo werden
wir mit Staunen inne, welche unermeßliche Aufgaben der aͤch¬
ten Seelenbildung noch vorliegen, an deren Erfuͤllung bisher
noch Niemand gedacht hat. Bei unſrer M. war freilich keine
dieſer Aufgaben zu loͤſen, denn ſie mußte zuruͤckkehren in dienſt¬
liche Verhaͤltniſſe, welche mit jedem idealen Bewußtſein in ei¬
nem allzuſchroffen Widerſtreit ſtehen, als daß derſelbe vom
ſtaͤrkſten Gemuͤth ertragen werden koͤnnte. Fuͤr ſie durfte es
hinfort keine ideale Liebe, kein Denken uͤber Weltverbeſſerung,
keine Theilnahme an den hoͤchſten Aufgaben des Menſchenge¬
ſchlechts geben, wenn nicht alle dieſe Regungen einer hoͤheren
Seelennatur unvermeidlich wieder in Wahnſinn ausarten ſoll¬
ten. Verſchuͤttet mußte daher gefliſſentlich jede Quelle bei
ihr werden, aus welcher ein veredeltes Bewußtſein hervorge¬
hen koͤnnte, da daſſelbe nur wie ein nachtwandelndes Geſpenſt
durch ihr ſpaͤteres Leben gehen wuͤrde.

In die Irrenabtheilung der Charité am 9. September
aufgenommen, wurde ſie im Gefuͤhl der tiefen Gemuͤthserſchuͤt¬
terung vorzugsweiſe von großer Angſt gequaͤlt, welche immer
der unmittelbare Ausdruck einer aus allen Fugen weichenden
und in regelloſe Verwilderung gerathenen Seelenthaͤtigkeit iſt.
Sie ſah, daß einer anderen Kranken zur Ader gelaſſen wurde,
und bildete ſich dabei ein, daß ihr alles Blut abgezapft wer¬
den ſolle, weshalb ſie ſich auf die Kniee warf, und Gott an¬
flehte, ſie eines ſanften Todes ſterben zu laſſen. In den bei¬
den erſten ſchlafloſen Naͤchten empfand ſie noch die groͤßte
Sehnſucht nach dem Verſtorbenen, von welchem ſie aus ihrer

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/107>, abgerufen am 28.11.2024.