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Humboldt, Alexander von: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung. In: Die Horen. Eine Monatsschrift. Bd. 1. Tübingen, 1795, S. 90-96.

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Die Lebenskraft
oder
der Rhodische Genius.
Eine Erzählung.

Die Syrakuser hatten ihren Poikile wie die Athener.
Vorstellungen von Göttern und Heroen, griechische und
italische Kunstwerke bekleideten die bunten Hallen des
Portikus. Unabläßig sah man das Volk dahin strömen,
den jungen Krieger, um sich an den Thaten der Ahnherrn,
den Künstler, um sich an dem Pinsel grosser Meister
zu weiden. Unter den zahllosen Gemählden, welche der
emsige Fleiß der Syrakuser aus dem Mutterlande gesam-
melt, war nur eines, das seit einem vollen Jahrhunderte
die Aufmerksamkeit aller Vorübergehenden auf sich zog.
Wenn es dem Olympischen Jupiter, dem Städtegründer
Cekrops, dem Heldenmuth des Harmedius und Aristogi-
ton an Bewunderern fehlte, so stand doch um jenes Bild
das Volk in dichten Rotten gedrängt. Woher diese Vor-
liebe für dasselbe? War es ein gerettetes Werk des Apel-
les, oder stammte es aus der Mahlerschule des Kallima-
chus * her? Nein, Anmuth und Grazie strahlten zwar
aus dem Bilde hervor, aber an Verschmelzung der Far-

* Cacizotechnos. Plin. XXXIV. 19. n. 35.
V
Die Lebenskraft
oder
der Rhodiſche Genius.
Eine Erzaͤhlung.

Die Syrakuſer hatten ihren Poikile wie die Athener.
Vorſtellungen von Goͤttern und Heroen, griechiſche und
italiſche Kunſtwerke bekleideten die bunten Hallen des
Portikus. Unablaͤßig ſah man das Volk dahin ſtroͤmen,
den jungen Krieger, um ſich an den Thaten der Ahnherrn,
den Kuͤnſtler, um ſich an dem Pinſel groſſer Meiſter
zu weiden. Unter den zahlloſen Gemaͤhlden, welche der
emſige Fleiß der Syrakuſer aus dem Mutterlande geſam-
melt, war nur eines, das ſeit einem vollen Jahrhunderte
die Aufmerkſamkeit aller Voruͤbergehenden auf ſich zog.
Wenn es dem Olympiſchen Jupiter, dem Staͤdtegruͤnder
Cekrops, dem Heldenmuth des Harmedius und Ariſtogi-
ton an Bewunderern fehlte, ſo ſtand doch um jenes Bild
das Volk in dichten Rotten gedraͤngt. Woher dieſe Vor-
liebe fuͤr daſſelbe? War es ein gerettetes Werk des Apel-
les, oder ſtammte es aus der Mahlerſchule des Kallima-
chus * her? Nein, Anmuth und Grazie ſtrahlten zwar
aus dem Bilde hervor, aber an Verſchmelzung der Far-

* Cacizotechnos. Plin. XXXIV. 19. n. 35.
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[90/0003] V Die Lebenskraft oder der Rhodiſche Genius. Eine Erzaͤhlung. Die Syrakuſer hatten ihren Poikile wie die Athener. Vorſtellungen von Goͤttern und Heroen, griechiſche und italiſche Kunſtwerke bekleideten die bunten Hallen des Portikus. Unablaͤßig ſah man das Volk dahin ſtroͤmen, den jungen Krieger, um ſich an den Thaten der Ahnherrn, den Kuͤnſtler, um ſich an dem Pinſel groſſer Meiſter zu weiden. Unter den zahlloſen Gemaͤhlden, welche der emſige Fleiß der Syrakuſer aus dem Mutterlande geſam- melt, war nur eines, das ſeit einem vollen Jahrhunderte die Aufmerkſamkeit aller Voruͤbergehenden auf ſich zog. Wenn es dem Olympiſchen Jupiter, dem Staͤdtegruͤnder Cekrops, dem Heldenmuth des Harmedius und Ariſtogi- ton an Bewunderern fehlte, ſo ſtand doch um jenes Bild das Volk in dichten Rotten gedraͤngt. Woher dieſe Vor- liebe fuͤr daſſelbe? War es ein gerettetes Werk des Apel- les, oder ſtammte es aus der Mahlerſchule des Kallima- chus * her? Nein, Anmuth und Grazie ſtrahlten zwar aus dem Bilde hervor, aber an Verſchmelzung der Far- * Cacizotechnos. Plin. XXXIV. 19. n. 35.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung. In: Die Horen. Eine Monatsschrift. Bd. 1. Tübingen, 1795, S. 90-96, hier S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_lebenskraft_1795/3>, abgerufen am 18.04.2024.