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Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847.

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Bewußtsein des Volkes gemacht, bethätigt sich am deutlichsten in seiner religiösen Grundansicht, in der Erkenntniß des Göttlichen in der Natur. Die sorgenlose Leichtigkeit des äußeren Daseins kam einer contemplativen Richtung fördernd entgegen. Wer konnte sich ungestörter und inniger der Betrachtung hingeben, nachsinnen über das irdische Leben, den Zustand des Menschen nach dem Tode, über das Wesen des Göttlichen, als die indischen Büßer, die waldbewohnenden Brahmanen59, deren alte Schulen eine der eigenthümlichsten Erscheinungen des indischen Lebens bilden und auf die geistige Entwickelung des ganzen Stammes einen wesentlichen Einfluß ausgeübt haben?"

Soll ich hier, wie ich, von meinem Bruder und anderen Sanskritkundigen geleitet, in meinen öffentlichen Vorlesungen gethan, einzeln an das erinnern, was ein lebendiges und häufig ausbrechendes Naturgefühl in die beschreibenden Theile der indischen Poesie eingewebt hat; so beginne ich mit den Veden, dem ersten und heiligsten Denkmale der Cultur ost-arischer Völker. Ihr Hauptgegenstand ist die Verehrung der Natur. Reizende Schilderungen der Morgenröthe und des Anblicks der "goldhändigen" Sonne enthalten die Hymnen des Rigveda. Die großen Heldengedichte Ramayana und Mahabharata sind jünger als die Veden, älter als die Puranen. In den epischen Schöpfungen ist ihrem Wesen nach die Verherrlichung der Natur an die Sage geknüpft. Wenn in den Veden sich selten örtlich die Scene angeben läßt, welche die heiligen Weisen begeisterte, so sind dagegen in den Heldengedichten die Naturschilderungen meist individuell und an bestimmte Localitäten gebunden, daher, was hauptsächlich Leben giebt, aus selbst-

Bewußtsein des Volkes gemacht, bethätigt sich am deutlichsten in seiner religiösen Grundansicht, in der Erkenntniß des Göttlichen in der Natur. Die sorgenlose Leichtigkeit des äußeren Daseins kam einer contemplativen Richtung fördernd entgegen. Wer konnte sich ungestörter und inniger der Betrachtung hingeben, nachsinnen über das irdische Leben, den Zustand des Menschen nach dem Tode, über das Wesen des Göttlichen, als die indischen Büßer, die waldbewohnenden Brahmanen59, deren alte Schulen eine der eigenthümlichsten Erscheinungen des indischen Lebens bilden und auf die geistige Entwickelung des ganzen Stammes einen wesentlichen Einfluß ausgeübt haben?"

Soll ich hier, wie ich, von meinem Bruder und anderen Sanskritkundigen geleitet, in meinen öffentlichen Vorlesungen gethan, einzeln an das erinnern, was ein lebendiges und häufig ausbrechendes Naturgefühl in die beschreibenden Theile der indischen Poesie eingewebt hat; so beginne ich mit den Veden, dem ersten und heiligsten Denkmale der Cultur ost-arischer Völker. Ihr Hauptgegenstand ist die Verehrung der Natur. Reizende Schilderungen der Morgenröthe und des Anblicks der „goldhändigen" Sonne enthalten die Hymnen des Rigveda. Die großen Heldengedichte Ramayana und Mahabharata sind jünger als die Veden, älter als die Puranen. In den epischen Schöpfungen ist ihrem Wesen nach die Verherrlichung der Natur an die Sage geknüpft. Wenn in den Veden sich selten örtlich die Scene angeben läßt, welche die heiligen Weisen begeisterte, so sind dagegen in den Heldengedichten die Naturschilderungen meist individuell und an bestimmte Localitäten gebunden, daher, was hauptsächlich Leben giebt, aus selbst-

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[39/0044] Bewußtsein des Volkes gemacht, bethätigt sich am deutlichsten in seiner religiösen Grundansicht, in der Erkenntniß des Göttlichen in der Natur. Die sorgenlose Leichtigkeit des äußeren Daseins kam einer contemplativen Richtung fördernd entgegen. Wer konnte sich ungestörter und inniger der Betrachtung hingeben, nachsinnen über das irdische Leben, den Zustand des Menschen nach dem Tode, über das Wesen des Göttlichen, als die indischen Büßer, die waldbewohnenden Brahmanen ⁵⁹ , deren alte Schulen eine der eigenthümlichsten Erscheinungen des indischen Lebens bilden und auf die geistige Entwickelung des ganzen Stammes einen wesentlichen Einfluß ausgeübt haben?" Soll ich hier, wie ich, von meinem Bruder und anderen Sanskritkundigen geleitet, in meinen öffentlichen Vorlesungen gethan, einzeln an das erinnern, was ein lebendiges und häufig ausbrechendes Naturgefühl in die beschreibenden Theile der indischen Poesie eingewebt hat; so beginne ich mit den Veden, dem ersten und heiligsten Denkmale der Cultur ost-arischer Völker. Ihr Hauptgegenstand ist die Verehrung der Natur. Reizende Schilderungen der Morgenröthe und des Anblicks der „goldhändigen" Sonne enthalten die Hymnen des Rigveda. Die großen Heldengedichte Ramayana und Mahabharata sind jünger als die Veden, älter als die Puranen. In den epischen Schöpfungen ist ihrem Wesen nach die Verherrlichung der Natur an die Sage geknüpft. Wenn in den Veden sich selten örtlich die Scene angeben läßt, welche die heiligen Weisen begeisterte, so sind dagegen in den Heldengedichten die Naturschilderungen meist individuell und an bestimmte Localitäten gebunden, daher, was hauptsächlich Leben giebt, aus selbst-

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos02_1847/44>, abgerufen am 16.04.2024.