Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite
61 (S. 40.) Humboldt über Steppen und Wüsten in den Ansichten der Natur, 2te Ausg. 1826 Bd. I. S. 33-37.
62 (S. 41.) Um das Wenige zu vervollständigen, was in dem Texte der indischen Litteratur entlehnt ist, und um (wie früher bei der griechischen und römischen Litteratur geschehen ist) die Quellen einzeln angeben zu können, schalte ich hier, nach den freundlichen handschriftlichen Mittheilungen eines ausgezeichneten und philosophischen Kenners der indischen Dichtungen, Herrn Theodor Goldstücker, allgemeinere Betrachtungen über das indische Naturgefühl ein: "Unter allen Einflüssen, welche die geistige Entwickelung des indischen Volkes erfahren, scheint mir derjenige der erste und wichtigste, welchen die reiche Natur des Landes auf das Volk ausgeübt hat. Das tiefste Naturgefühl ist zu allen Zeiten der Grundzug des indischen Geistes gewesen. Drei Epochen lassen sich mit Bezug auf die Weise angeben, in welcher sich dieses Naturgefühl offenbart hat. Jede derselben hat ihren bestimmten, im Leben und in der Tendenz des Volkes tief begründeten Charakter. Daher können wenige Beispiele hinreichen, um die fast dreitausendjährige Thätigkeit der indischen Phantasie zu bezeichnen. Die erste Epoche des Ausdrucks eines regen Naturgefühls offenbaren die Vedas. Aus dem Rigveda führen wir an die einfach erhabenen Schilderungen der Morgenröthe (Rigveda-Sanhita ed. Rosen 1838 hymn. XLVI p. 88, hymn. XLVIII p. 92, hymn. XCII p. 184, hymn. CXIII p. 233; vergl. auch Höfer, ind. Gedichte 1841 Lese 1. S. 3) und der "goldhändigen" Sonne (s. a. a. O. hymn. XXII p. 31, hymn. XXXV p. 65). Die Verehrung der Natur war hier, wie bei anderen Völkern, der Beginn des Glaubens; sie hat aber in den Vedas die besondere Bestimmtheit, daß der Mensch sie stets in ihrem tiefsten Zusammenhange mit seinem eigenen äußern und inneren Leben auffaßt. -- Sehr verschieden ist die zweite Epoche. In ihr wird eine populäre Mythologie geschaffen; sie hat den Zweck die Sagen der Vedas für das der Urzeit schon entfremdete Bewußtsein faßlicher auszubilden und mit historischen Ereignissen, die in das Reich der Mythe erhoben werden, zu verweben. Es fallen in diese zweite Epoche die beiden großen Heldengedichte Ramayana und Mahabharata, von denen das letztere, jüngere, noch den Nebenzweck hat die Brahmanencaste unter den vieren, welche die Verfassung des alten
61 (S. 40.) Humboldt über Steppen und Wüsten in den Ansichten der Natur, 2te Ausg. 1826 Bd. I. S. 33–37.
62 (S. 41.) Um das Wenige zu vervollständigen, was in dem Texte der indischen Litteratur entlehnt ist, und um (wie früher bei der griechischen und römischen Litteratur geschehen ist) die Quellen einzeln angeben zu können, schalte ich hier, nach den freundlichen handschriftlichen Mittheilungen eines ausgezeichneten und philosophischen Kenners der indischen Dichtungen, Herrn Theodor Goldstücker, allgemeinere Betrachtungen über das indische Naturgefühl ein: „Unter allen Einflüssen, welche die geistige Entwickelung des indischen Volkes erfahren, scheint mir derjenige der erste und wichtigste, welchen die reiche Natur des Landes auf das Volk ausgeübt hat. Das tiefste Naturgefühl ist zu allen Zeiten der Grundzug des indischen Geistes gewesen. Drei Epochen lassen sich mit Bezug auf die Weise angeben, in welcher sich dieses Naturgefühl offenbart hat. Jede derselben hat ihren bestimmten, im Leben und in der Tendenz des Volkes tief begründeten Charakter. Daher können wenige Beispiele hinreichen, um die fast dreitausendjährige Thätigkeit der indischen Phantasie zu bezeichnen. Die erste Epoche des Ausdrucks eines regen Naturgefühls offenbaren die Vedas. Aus dem Rigveda führen wir an die einfach erhabenen Schilderungen der Morgenröthe (Rigveda-Sanhitâ ed. Rosen 1838 hymn. XLVI p. 88, hymn. XLVIII p. 92, hymn. XCII p. 184, hymn. CXIII p. 233; vergl. auch Höfer, ind. Gedichte 1841 Lese 1. S. 3) und der „goldhändigen" Sonne (s. a. a. O. hymn. XXII p. 31, hymn. XXXV p. 65). Die Verehrung der Natur war hier, wie bei anderen Völkern, der Beginn des Glaubens; sie hat aber in den Vedas die besondere Bestimmtheit, daß der Mensch sie stets in ihrem tiefsten Zusammenhange mit seinem eigenen äußern und inneren Leben auffaßt. — Sehr verschieden ist die zweite Epoche. In ihr wird eine populäre Mythologie geschaffen; sie hat den Zweck die Sagen der Vedas für das der Urzeit schon entfremdete Bewußtsein faßlicher auszubilden und mit historischen Ereignissen, die in das Reich der Mythe erhoben werden, zu verweben. Es fallen in diese zweite Epoche die beiden großen Heldengedichte Ramayana und Mahabharata, von denen das letztere, jüngere, noch den Nebenzweck hat die Brahmanencaste unter den vieren, welche die Verfassung des alten
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0120" n="115"/>
            <note xml:id="ftn60-text" prev="#ftn60" place="end" n="61"> (S. 40.) <hi rendition="#g">Humboldt über Steppen und Wüsten</hi> in den <hi rendition="#g">Ansichten der Natur,</hi> 2te Ausg. 1826 Bd. I. S. 33&#x2013;37.</note>
            <note xml:id="ftn61-text" prev="#ftn61" place="end" n="62">
              <p> (S. 41.) Um das Wenige zu vervollständigen, was in dem Texte der indischen Litteratur entlehnt ist, und um (wie früher bei der griechischen und römischen Litteratur geschehen ist) die Quellen einzeln angeben zu können, schalte ich hier, nach den freundlichen <hi rendition="#g">handschriftlichen</hi> Mittheilungen eines ausgezeichneten und philosophischen Kenners der indischen Dichtungen, Herrn Theodor <hi rendition="#g">Goldstücker, allgemeinere Betrachtungen über  das indische Naturgefühl</hi> ein:</p>
              <p>&#x201E;Unter allen Einflüssen, welche die geistige Entwickelung des indischen Volkes erfahren, scheint mir derjenige der erste und wichtigste, welchen die reiche Natur des Landes auf das Volk ausgeübt hat. Das tiefste Naturgefühl ist zu allen Zeiten der Grundzug des indischen Geistes gewesen. Drei Epochen lassen sich mit Bezug auf die Weise angeben, in welcher sich dieses Naturgefühl offenbart hat. Jede derselben hat ihren bestimmten, im Leben und in der Tendenz des Volkes tief begründeten Charakter. Daher können wenige Beispiele hinreichen, um die fast dreitausendjährige Thätigkeit der indischen Phantasie zu bezeichnen. Die erste Epoche des Ausdrucks eines regen Naturgefühls offenbaren die <hi rendition="#g">Vedas.</hi> Aus dem Rigveda führen wir an die einfach erhabenen Schilderungen der Morgenröthe <hi rendition="#g">(Rigveda-Sanhitâ</hi> ed. Rosen 1838 hymn. XLVI p. 88, hymn. XLVIII p. 92, hymn. XCII p. 184, hymn. CXIII p. 233; vergl. auch <hi rendition="#g">Höfer, ind. Gedichte</hi> 1841 Lese 1. S. 3) und der &#x201E;goldhändigen" Sonne (s. a. a. O. hymn. XXII p. 31, hymn. XXXV p. 65). Die Verehrung der Natur war hier, wie bei anderen Völkern, der Beginn des Glaubens; sie hat aber in den Vedas die besondere Bestimmtheit, daß der Mensch sie stets in ihrem tiefsten Zusammenhange mit seinem eigenen äußern und inneren Leben auffaßt. &#x2014; Sehr verschieden ist die zweite Epoche. In ihr wird eine populäre Mythologie geschaffen; sie hat den Zweck die Sagen der Vedas für das der Urzeit schon entfremdete Bewußtsein faßlicher auszubilden und mit historischen Ereignissen, die in das Reich der Mythe erhoben werden, zu verweben. Es fallen in diese zweite Epoche die beiden großen Heldengedichte Ramayana und Mahabharata, von denen das letztere, jüngere, noch den Nebenzweck hat die Brahmanencaste unter den vieren, welche die Verfassung des alten
</p>
            </note>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[115/0120] ⁶¹ (S. 40.) Humboldt über Steppen und Wüsten in den Ansichten der Natur, 2te Ausg. 1826 Bd. I. S. 33–37. ⁶² (S. 41.) Um das Wenige zu vervollständigen, was in dem Texte der indischen Litteratur entlehnt ist, und um (wie früher bei der griechischen und römischen Litteratur geschehen ist) die Quellen einzeln angeben zu können, schalte ich hier, nach den freundlichen handschriftlichen Mittheilungen eines ausgezeichneten und philosophischen Kenners der indischen Dichtungen, Herrn Theodor Goldstücker, allgemeinere Betrachtungen über das indische Naturgefühl ein: „Unter allen Einflüssen, welche die geistige Entwickelung des indischen Volkes erfahren, scheint mir derjenige der erste und wichtigste, welchen die reiche Natur des Landes auf das Volk ausgeübt hat. Das tiefste Naturgefühl ist zu allen Zeiten der Grundzug des indischen Geistes gewesen. Drei Epochen lassen sich mit Bezug auf die Weise angeben, in welcher sich dieses Naturgefühl offenbart hat. Jede derselben hat ihren bestimmten, im Leben und in der Tendenz des Volkes tief begründeten Charakter. Daher können wenige Beispiele hinreichen, um die fast dreitausendjährige Thätigkeit der indischen Phantasie zu bezeichnen. Die erste Epoche des Ausdrucks eines regen Naturgefühls offenbaren die Vedas. Aus dem Rigveda führen wir an die einfach erhabenen Schilderungen der Morgenröthe (Rigveda-Sanhitâ ed. Rosen 1838 hymn. XLVI p. 88, hymn. XLVIII p. 92, hymn. XCII p. 184, hymn. CXIII p. 233; vergl. auch Höfer, ind. Gedichte 1841 Lese 1. S. 3) und der „goldhändigen" Sonne (s. a. a. O. hymn. XXII p. 31, hymn. XXXV p. 65). Die Verehrung der Natur war hier, wie bei anderen Völkern, der Beginn des Glaubens; sie hat aber in den Vedas die besondere Bestimmtheit, daß der Mensch sie stets in ihrem tiefsten Zusammenhange mit seinem eigenen äußern und inneren Leben auffaßt. — Sehr verschieden ist die zweite Epoche. In ihr wird eine populäre Mythologie geschaffen; sie hat den Zweck die Sagen der Vedas für das der Urzeit schon entfremdete Bewußtsein faßlicher auszubilden und mit historischen Ereignissen, die in das Reich der Mythe erhoben werden, zu verweben. Es fallen in diese zweite Epoche die beiden großen Heldengedichte Ramayana und Mahabharata, von denen das letztere, jüngere, noch den Nebenzweck hat die Brahmanencaste unter den vieren, welche die Verfassung des alten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Posner Collection: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-01-09T11:04:31Z)
Moritz Bodner: Erstellung bzw. Korrektur der griechischen Textpassagen (2013-04-18T11:04:31Z)



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos02_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos02_1847/120
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos02_1847/120>, abgerufen am 24.11.2024.