Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1845.worden ist, müssen wir noch die Ursach des unaussprechlich tiefen und ganz eigenthümlichen Eindrucks berühren, welchen das erste Erdbeben, das wir empfinden, sei es auch von keinem unterirdischen Getöse begleitet, in uns zurückläßt. Ein solcher Eindruck, glaube ich, ist nicht Folge der Erinnerung an die Schreckensbilder der Zerstörung, welche unsrer Einbildungskraft aus Erzählungen historischer Vergangenheit vorschweben. Was uns so wundersam ergreift, ist die Enttäuschung von dem angeborenen Glauben an die Ruhe und Unbeweglichkeit des Starren, der festen Erdschichten. Von früher Kindheit sind wir an den Contrast zwischen dem beweglichen Element des Wassers und der Unbeweglichkeit des Bodens gewöhnt, auf dem wir stehen. Alle Zeugnisse unsrer Sinne haben diesen Glauben befestigt. Wenn nun urplötzlich der Boden erbebt, so tritt geheimnißvoll eine unbekannte Naturmacht als das Starre bewegend, als etwas Handelndes auf. Ein Augenblick vernichtet die Illusion des ganzen früheren Lebens. Enttäuscht sind wir über die Ruhe der Natur; wir fühlen uns in den Bereich zerstörender, unbekannter Kräfte versetzt. Jeder Schall, die leiseste Regung der Lüfte spannt unsre Aufmerksamkeit. Man traut gleichsam dem Boden nicht mehr, auf den man tritt. Das Ungewöhnliche der Erscheinung bringt dieselbe ängstliche Unruhe bei Thieren hervor. Schweine und Hunde sind besonders davon ergriffen. Die Crocodile im Orinoco, sonst so stumm als unsere kleinen Eidechsen, verlassen den erschütterten Boden des Flusses und laufen brüllend dem Walde zu. Dem Menschen stellt sich das Erdbeben als etwas allgegenwärtiges, unbegrenztes dar. Von einem thätigen Aus- worden ist, müssen wir noch die Ursach des unaussprechlich tiefen und ganz eigenthümlichen Eindrucks berühren, welchen das erste Erdbeben, das wir empfinden, sei es auch von keinem unterirdischen Getöse begleitet, in uns zurückläßt. Ein solcher Eindruck, glaube ich, ist nicht Folge der Erinnerung an die Schreckensbilder der Zerstörung, welche unsrer Einbildungskraft aus Erzählungen historischer Vergangenheit vorschweben. Was uns so wundersam ergreift, ist die Enttäuschung von dem angeborenen Glauben an die Ruhe und Unbeweglichkeit des Starren, der festen Erdschichten. Von früher Kindheit sind wir an den Contrast zwischen dem beweglichen Element des Wassers und der Unbeweglichkeit des Bodens gewöhnt, auf dem wir stehen. Alle Zeugnisse unsrer Sinne haben diesen Glauben befestigt. Wenn nun urplötzlich der Boden erbebt, so tritt geheimnißvoll eine unbekannte Naturmacht als das Starre bewegend, als etwas Handelndes auf. Ein Augenblick vernichtet die Illusion des ganzen früheren Lebens. Enttäuscht sind wir über die Ruhe der Natur; wir fühlen uns in den Bereich zerstörender, unbekannter Kräfte versetzt. Jeder Schall, die leiseste Regung der Lüfte spannt unsre Aufmerksamkeit. Man traut gleichsam dem Boden nicht mehr, auf den man tritt. Das Ungewöhnliche der Erscheinung bringt dieselbe ängstliche Unruhe bei Thieren hervor. Schweine und Hunde sind besonders davon ergriffen. Die Crocodile im Orinoco, sonst so stumm als unsere kleinen Eidechsen, verlassen den erschütterten Boden des Flusses und laufen brüllend dem Walde zu. Dem Menschen stellt sich das Erdbeben als etwas allgegenwärtiges, unbegrenztes dar. Von einem thätigen Aus- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0243" n="224"/> worden ist, müssen wir noch die Ursach des unaussprechlich tiefen und ganz eigenthümlichen Eindrucks berühren, welchen das erste Erdbeben, das wir empfinden, sei es auch von keinem unterirdischen Getöse begleitet, in uns zurückläßt. Ein solcher Eindruck, glaube ich, ist nicht Folge der Erinnerung an die Schreckensbilder der Zerstörung, welche unsrer Einbildungskraft aus Erzählungen historischer Vergangenheit vorschweben. Was uns so wundersam ergreift, ist die Enttäuschung von dem angeborenen Glauben an die Ruhe und Unbeweglichkeit des <hi rendition="#g">Starren,</hi> der festen Erdschichten. Von früher Kindheit sind wir an den Contrast zwischen dem beweglichen Element des Wassers und der Unbeweglichkeit des Bodens gewöhnt, auf dem wir stehen. Alle Zeugnisse unsrer Sinne haben diesen Glauben befestigt. Wenn nun urplötzlich der Boden erbebt, so tritt geheimnißvoll eine unbekannte Naturmacht als das Starre bewegend, als etwas Handelndes auf. Ein Augenblick vernichtet die Illusion des ganzen früheren Lebens. Enttäuscht sind wir über die Ruhe der Natur; wir fühlen uns in den Bereich zerstörender, unbekannter Kräfte versetzt. Jeder Schall, die leiseste Regung der Lüfte spannt unsre Aufmerksamkeit. Man traut gleichsam dem Boden nicht mehr, auf den man tritt. Das Ungewöhnliche der Erscheinung bringt dieselbe ängstliche Unruhe bei Thieren hervor. Schweine und Hunde sind besonders davon ergriffen. Die Crocodile im Orinoco, sonst so stumm als unsere kleinen Eidechsen, verlassen den erschütterten Boden des Flusses und laufen brüllend dem Walde zu.</p> <p>Dem Menschen stellt sich das Erdbeben als etwas allgegenwärtiges, unbegrenztes dar. Von einem thätigen Aus- </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [224/0243]
worden ist, müssen wir noch die Ursach des unaussprechlich tiefen und ganz eigenthümlichen Eindrucks berühren, welchen das erste Erdbeben, das wir empfinden, sei es auch von keinem unterirdischen Getöse begleitet, in uns zurückläßt. Ein solcher Eindruck, glaube ich, ist nicht Folge der Erinnerung an die Schreckensbilder der Zerstörung, welche unsrer Einbildungskraft aus Erzählungen historischer Vergangenheit vorschweben. Was uns so wundersam ergreift, ist die Enttäuschung von dem angeborenen Glauben an die Ruhe und Unbeweglichkeit des Starren, der festen Erdschichten. Von früher Kindheit sind wir an den Contrast zwischen dem beweglichen Element des Wassers und der Unbeweglichkeit des Bodens gewöhnt, auf dem wir stehen. Alle Zeugnisse unsrer Sinne haben diesen Glauben befestigt. Wenn nun urplötzlich der Boden erbebt, so tritt geheimnißvoll eine unbekannte Naturmacht als das Starre bewegend, als etwas Handelndes auf. Ein Augenblick vernichtet die Illusion des ganzen früheren Lebens. Enttäuscht sind wir über die Ruhe der Natur; wir fühlen uns in den Bereich zerstörender, unbekannter Kräfte versetzt. Jeder Schall, die leiseste Regung der Lüfte spannt unsre Aufmerksamkeit. Man traut gleichsam dem Boden nicht mehr, auf den man tritt. Das Ungewöhnliche der Erscheinung bringt dieselbe ängstliche Unruhe bei Thieren hervor. Schweine und Hunde sind besonders davon ergriffen. Die Crocodile im Orinoco, sonst so stumm als unsere kleinen Eidechsen, verlassen den erschütterten Boden des Flusses und laufen brüllend dem Walde zu.
Dem Menschen stellt sich das Erdbeben als etwas allgegenwärtiges, unbegrenztes dar. Von einem thätigen Aus-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos01_1845 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos01_1845/243 |
Zitationshilfe: | Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1845, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos01_1845/243>, abgerufen am 16.02.2025. |