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Humboldt, Alexander von: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. [Tübingen], [1806].

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Wenn der Mensch mit regsamem Sinne die
Natur durchforscht, oder in seiner Phantasie die
weiten Räume der organischen Schöpfung mißt,
so wirkt unter den vielfachen Eindrükken, die er
empfängt, keiner so tief und mächtig als der,
welchen die allverbreitete Fülle des Lebens er-
zeugt. Ueberall, selbst am beeisten Pol, ertönt
die Luft von dem Gesange der Vögel, wie von
dem Sumsen schwirrender Insecten. Nicht die
unteren Schichten allein, in welchen die verdich-
teten Dünste schweben, auch die oberen ätherisch-
reinen, sind belebt. Denn so oft man den Rük-
ken der Peruanischen Cordilleren, oder, südlich
vom Leman-See, den Gipfel des Weißen-Berges
bestieg, hat man selbst in diesen Einöden noch
Thiere entdeckt. Am Chimborazo, sechsmal hö-
her als der Brokken, sahen wir Schmetterlinge
und andere geflügelte Insecten. Wenn auch,
von senkrechten Luftströmen getrieben, sie sich
dahin, als Fremdlinge, verirrten, wohin unruhi-
ge Forschbegier des Menschen sorgsame Schritte
leitet; so beweiset ihr Daseyn doch, daß die bieg-

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Wenn der Mensch mit regsamem Sinne die
Natur durchforscht, oder in seiner Phantasie die
weiten Räume der organischen Schöpfung mißt,
so wirkt unter den vielfachen Eindrükken, die er
empfängt, keiner so tief und mächtig als der,
welchen die allverbreitete Fülle des Lebens er-
zeugt. Ueberall, selbst am beeisten Pol, ertönt
die Luft von dem Gesange der Vögel, wie von
dem Sumsen schwirrender Insecten. Nicht die
unteren Schichten allein, in welchen die verdich-
teten Dünste schweben, auch die oberen ätherisch-
reinen, sind belebt. Denn so oft man den Rük-
ken der Peruanischen Cordilleren, oder, südlich
vom Leman-See, den Gipfel des Weißen-Berges
bestieg, hat man selbst in diesen Einöden noch
Thiere entdeckt. Am Chimborazo, sechsmal hö-
her als der Brokken, sahen wir Schmetterlinge
und andere geflügelte Insecten. Wenn auch,
von senkrechten Luftströmen getrieben, sie sich
dahin, als Fremdlinge, verirrten, wohin unruhi-
ge Forschbegier des Menschen sorgsame Schritte
leitet; so beweiset ihr Daseyn doch, daß die bieg-

A 2
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[0002] Wenn der Mensch mit regsamem Sinne die Natur durchforscht, oder in seiner Phantasie die weiten Räume der organischen Schöpfung mißt, so wirkt unter den vielfachen Eindrükken, die er empfängt, keiner so tief und mächtig als der, welchen die allverbreitete Fülle des Lebens er- zeugt. Ueberall, selbst am beeisten Pol, ertönt die Luft von dem Gesange der Vögel, wie von dem Sumsen schwirrender Insecten. Nicht die unteren Schichten allein, in welchen die verdich- teten Dünste schweben, auch die oberen ätherisch- reinen, sind belebt. Denn so oft man den Rük- ken der Peruanischen Cordilleren, oder, südlich vom Leman-See, den Gipfel des Weißen-Berges bestieg, hat man selbst in diesen Einöden noch Thiere entdeckt. Am Chimborazo, sechsmal hö- her als der Brokken, sahen wir Schmetterlinge und andere geflügelte Insecten. Wenn auch, von senkrechten Luftströmen getrieben, sie sich dahin, als Fremdlinge, verirrten, wohin unruhi- ge Forschbegier des Menschen sorgsame Schritte leitet; so beweiset ihr Daseyn doch, daß die bieg- A 2

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. [Tübingen], [1806], S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_ideen_1806/2>, abgerufen am 29.03.2024.